Reportage

Sonnenbrillen aus Holz und kalbende Gletscher -
eine kurze Charakteristik Ostgrönlands

Anlässlich der Neuauflage des Island-Guides (4. Auflage, zusammen mit Christine Sadler) hat sich Jens Willhardt für einen Abstecher auf die größte Insel der Welt begeben, die übrigens genau wie die Färöer Inseln im Buch mit Tipps vertreten ist. In seinem Artikel beschreibt er anschaulich die Besonderheiten der größten Insel der Welt, wo Sonnenbrillen aus Holz erfunden wurden, Eisberge umschifft werden müssen und die Filatelie den größten Unternehmenszweig abgibt.


»Bitte die Schwimmwesten anlegen!« Der junge Grönländer macht wortkarg die Leinen los und das kleine offene Boot braust nach Westen. Die Ankunft in Grönland nimmt einem fast den Atem. Gerade saß man noch warm im Flieger über dem Nordatlantik, hatte keine Zeit zum Staunen, als die ersten Eisschollen wie wahllos hingeworfene Teile eines weißen Puzzles in das Blickfeld kamen; kaum konnte ich den toten riesigen Eisbären grüßen, der in der Ankunftshalle in Kulusuk an der Wand hängt. – Es ist trocken und kalt, Windstille, das Meer ist sanft, das kleine Boot rauscht nach Tasiilaq.
Auf einmal ist man auch ein Puzzlestück im Nordatlantik, im Ostgrönlandstrom, der wie ein gewaltiges Förderband Eisberge aus dem
Norden herbeischafft. Gelegentlich kracht das Boot auf Eisstücke. Der Himmel ist ruhig, gespenstisch-grau mit einem Gelbschleier, das Meer dunkel, der Fahrtwind schneidend. Ein Feld kleiner Eissplitter rast auf den Bug zu, am Horizont stehen Türme aus Eis. Der Skipper denkt nicht daran, abzubremsen. Das Eiswürfelfeld wird durchmahlen, der metallene Bug zerteilt es klirrend, der Motor braust auf, die Bootsfahrt wird zur Reise in einem überdimensionierten Eiscrusher. Die großen Eisbrocken schwanken wie besoffen in der leichten Dünung. Der bunte Ort Tasiilaq (»ruhiges Wasser«) ist erreicht. Eine andere Welt, die mit Island, wo wir gestartet sind, wenig mehr als den Breitengrad gemeinsam hat. Island
das Eisige, Grönland das Grüne? In der Mitte liegt die Wahrheit. Grönland
empfängt mit Eisbergen, aber mit einer höheren Temperatur als Island. Doch nicht nur die natürlichen Gegebenheiten sind anders.


Das soziale Gefüge Grönlands: von außen schwer zu durchschauen

»Man nimmt hier alles wortlos hin«, erklärt der Südtiroler Robert Peroni, der Leiter des Roten Hauses, eines Gästehauses in Tasiilaq. Grönland ist von außen schwer zu durchschauen und zu verstehen. Wer als Gast zu Peroni kommt, soll nicht zu den Exoten fahren, sondern zu Menschen, Inuit. Das Kennenlernen erleichtert die hervorragende Küche im Roten Haus, die Einheimisches mit Mediterranem kombiniert. Nach dem Essen ist Gelegenheit, etwas über das soziale Gefüge und die einheimische Kultur zu erfahren: »Ein Clan aus 30-40 Personen wird von 2-3 Jägern mit Fleisch versorgt, andere arbeiten, um Geld zu verdienen.« Arbeit ist hier kein Wert an sich – ganz anders als bei den Isländern, bei denen ein echter Mann ein Machertyp ist, der am besten jeden Monat ein neues Projekt auf die Beine stellt.Freundlich sind sie trotzdem, die Angestellten im Supermarkt, in dem es vom Mückenschutz über dänische Marmelade und Baguette bis zum Gewehr alles zu kaufen gibt. Die eisige Welt ist auch in der Moderne kein Idyll: Probleme wurden importiert, für die kein Umgang und keine Lösung gefunden wurde. Alkoholismus ist verbreitet wie Arbeitslosigkeit, wirtschaftlich lebt man in Abhängigkeit von Dänemark und die alte Kultur ist bedroht durch europäische Einwanderer und moderne Medien. Doch sperrt sich die Kultur auch beharrlich gegenüber »westlichen« Einflüssen:Positive Konkurrenz ist so fremd wie Besitzdenken. Das Wort »mein« gibt es eigentlich nicht.
Auch der Winter sorgt dafür, dass althergebrachte Traditionen nicht ganz verschwinden: Wenn es dunkel und zwielichtig wird, ist das rationale Denken schnell unbedeutend. Er habe es schon erlebt, so Peroni, dass Einheimische zu ihm kommen, und erzählen, dem Ortsgeist begegnet zu sein. »Macht euch nicht zu schnell lustig darüber«, raunt Peroni den schmunzelnden Gästen zu, »bleibt erstmal einen Winter hier!«


Walbeobachtungen, eine gigantische Inlandseiskappe, und eine Hundeschlittenfahrt auf dem Gletscher: Ostgrönland als Wander- und Trekkinggebiet

Für Touristen sieht es freilich auch im strahlenden Sonnenlicht des Sommers winterlich aus, insbesondere, wenn es wie jetzt eine ungewöhnlich starke Menge an Treibeis gibt. Wer hierher kommt, der sucht das Naturerlebnis. Zu Recht: Das Gebiet um die Hauptstadt Ostgrönlands ist ein herrliches Wander- und Trekkinggebiet. Beliebt ist eine Bootstour zur Walbeobachtung, eine Fahrt nach Nogtivit zur gigantischen Inlandseiskappe oder eine Tour in den Johan-Petersen-Fjord, in den mehrere Gletscher hinabströmen. Eine andere Bootsfahrt führt zur winzigen Siedlung Tinite. Spektakulär ist eine Hundeschlittenfahrt auf dem Gletscher. Neue Reisende sind eingetroffen, sie wollen Grönland auf eigene Faust erkunden. Kürzere Touren sind kein Problem, für Bootsfahrten findet sich immer ein Jäger, der Taxidienste leistet. Doch heute nieselt es. Bei schlechtem Wetter geht man auch in diesem winzigen 2000-Seelen-Ort, ein paar Eisberge vom Polarkreis entfernt, ins Museum. Auf dem Weg dorthin grüßt Dennis, ein robuster Grönländer, der vor seinem roten Holzhaus steht und sich um seine Hunde kümmert. Er zeigt uns stolz seine Welpen und erzählt ebenso stolz von einem Auftrag der BBC, die quer übers Eis gebracht werden wollte. Die großen Hunde sehen gefährlich aus, besonders wenn in ihrem nassen Fell noch Blut klebt – die Mutter der Welpen zerfleischt gerade ein Stück Robbe.


Die Filatelie als größtes Unternehmen

Wer geneigt ist, die Grönländer für primitiv zu halten, dem hilft der Museumsleiter Ole Jensen auf die Sprünge: Die Bewohner erfanden Sonnenbrillen aus Holz und Outdoorjacken aus Robbendarm, leicht und wasserundurchlässig. Ein Flugzeugwrack aus dem zweiten Weltkrieg wurde geschickt ausgeweidet und für den Bau eines stabilen Paddels verwendet. Aus sibirischem Treibholz fertigte man Umiak-Boote. Sie dienen heute v.a. dem Sport, außer bei der Narwaljagd, weil man sich hier leise anpirschen muss.
Ostgrönland ist äußerst dünn besiedelt. Nur 56.000 Menschen leben hier. Es gibt eigentlich nur ein großes Unternehmen: die Filatelie, das Sammlerzentrum für Briefmarkenfreunde. Seit 1989 gibt sie 17 Menschen Arbeit, die die neu herausgegebenen Marken von hier an 25.000 Kunden verschicken. Die Zeitschrift »Collector« ist das auflagenstärkste Magazin Grönlands!
Der Nebel hebt sich, eine leichte Bö kommt auf und lässt Jacke und Hosenbeine flattern. Der Fjord wird wieder sichtbar. Vor dem Postamt sitzen alte Männer und klönen, auf den im Ort zwischen den bunten Häusern verstreuten Felsen sitzen Familien und genießen den Sonntag und ein paar Sonnenstrahlen. Zeit für neue Unternehmungen in der Natur, vielleicht mit dem Boot zur riesigen weißblauen Eiswand des Karalegletschers, der in grünliches Wasser kalbt.

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