Wussten Sie, dass ...?

Teil 22: Der große amerikanische (Werbe-)Traum.

460.000 Besucher, 400.000 Pendler, 50.000 Autos, Videowände allüberall – das ist Alltag am Times Square. Dabei fing alles ganz bescheiden mit einigen Werkstattbetrieben an. Erst ein Newsticker der New York Times veränderte alles. Dorothea Martin, Autorin von New York MM-City (5. Auflage 2015), hat den meistbesuchten Platz des Planeten angesteuert – und hinter die Fassaden des Times Square geblickt.


Der Times Square von Manhattan ist einer der am meisten besuchten Plätze der Welt. 80 Prozent (!) aller New York-Touristen zieht es genau dorthin. Warum das so ist? Zum einen ballen sich hier die Theater der Stadt. Zum anderen verwandelt die Werbeindustrie das Vergnügungsmekka in ein knallbuntes Lichter-Spektakel, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Seit Dezember 2014 ist die Glitzerwelt um eine weitere Attraktion reicher: um die größte, teuerste und technologisch fortschrittlichste Videoleinwand der Welt.


Ein hochgeklapptes American Football-Spielfeld

Gigantomanie Times Square …
Gigantomanie Times Square …

Stellen Sie sich ein American Football-Spielfeld vor, nur hochgeklappt und angeschraubt an die Fassade des Marriott Marquis Hotels am Broadway zwischen 45. und 46. Straße. Nicht Ihre Maßeinheit? Nehmen Sie die Länge eines ganzen New Yorker Häuserblocks in der Höhe von 8 Stockwerken (oder, ganz profan, 2.300 Quadratmeter).
Warum diese monumentale Werbefläche? Als Touristen erwarten wir ständig neue Rekorde von der Stadt der Superlative, doch New York wäre nicht New York, wenn es nicht auch ums Geldverdienen ginge. Wer auf dieser Anzeigentafel einen Monat für seine Firma oder sein Produkt werben möchte, muss angeblich 2,5 Millionen Dollar zahlen.
Dafür kauft man sich in die Zukunft ein. Denn mit 24 Millionen LED-Pixeln im neuen 4-K-Format hat der Screen eine höhere Auflösung als der bislang beste Fernseher auf dem Weltmarkt. Die Real Black LED-Technologie sorgt dafür, dass die Tafel aus allen Blickrichtungen und bei grellem Sonnenlicht erkennbar bleibt. Zusätzlich können über eine hochauflösende Kamera das Umfeld und die Menschen gefilmt werden, so dass der gigantomanische Bildschirm für Soziale Medien, Live-Übertragungen und Interaktion wie geschaffen ist.


Gigantomanie Times Square

… eine Videoleinwand groß wie ein American Football-Spielfeld
… eine Videoleinwand groß wie ein American Football-Spielfeld

Dadurch könnte der Times Square ein noch stärkerer Magnet für Mega-Events werden. Die Politik jedenfalls unterstützt das. Zum Beispiel im Rahmen des Projektes »Times Square Transformation«, das ins Leben gerufen wurde, um die am stärksten verstopfte Straßenkreuzung der Stadt in einen autofreien Platz zu verwandeln, 50.000 Pkws passieren täglich den Times Square. 2016 soll es dort nur noch Fußgänger geben (was die Sache allerdings auch nicht einfacher macht).
Schon heute werden am Times Square an Spitzentagen bis zu 460.000 Besucher täglich (!) gezählt. Ein Viertel aller Hotelzimmer Manhattans befinden sich hier. Zu Silvester wird es regelmäßig noch voller – dann drängen sich eine Million Menschen fünf bis zehn Stunden lang in die überfüllten Straßenzüge. Das Freiluftspektakel mit den rockenden Stars und der Zeitkugel wird von einer Milliarde Menschen weltweit vor den Fernsehbildschirmen verfolgt.
Zu all den Besuchern kommen fast 400.000 Pendler an den Billboards (so heißen die Werbetafeln) vorbei. Man muss diesen Hype nicht mögen, aber der Faszination dieses kunterbunten Treibens können sich selbst Kritiker der »Disneyfizierung« – Amerikaner meinen damit die Kommerzialisierung des Platzes und seine Verwandlung in eine Art Themenpark – nicht entziehen. Wie ist es dazu gekommen?


Der Times Square im Zeitraffer seiner Geschichte

Fast schon symbolisch, die bevorstehende Disneyfizierung des meistbesuchten Platzes des Planeten
Fast schon symbolisch, die bevorstehende Disneyfizierung des meistbesuchten Platzes des Planeten

Bis vor gut hundert Jahren hieß die Kreuzung Broadway Ecke 42. Straße noch Longacre Square und war erfüllt von Staub, Lärm und Pferdedung. In unzähligen Werkstätten wurde gesägt, gehämmert und geschmiedet, um Kutschen herzustellen. Erst als sich die New York Times 1904 ihren Firmensitz hier erbauen ließ, verwandelte sich der Platz in den nach ihr benannten Times Square. Sie war auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Werbetafeln entstanden.
Voraussetzung für die informative Beleuchtung waren mehrere technische Entwicklungen: Zunächst die Erfindung der Glühbirne in den 1890er Jahren. Sie erlaubte es vor allem den zahlreichen Theatern, Musical-Häusern und Cabarets, die der Zeitung an den damals nördlichen Stadtrand gefolgt waren, festlich zu erstrahlen. Der Broadway wurde zu Manhattans Vergnügungszentrum und zum »Great White Way«.
Die erste elektrische Werbetafel brachte man 1892 am Times Square an. Sie bewarb das Freizeitressort Coney Island in Brooklyn. 1910 entwickelte die New York Times den elektronischen Newsticker. Von nun an versammelten sich Wissbegierige und Sportfans zu Tausenden auf dem Bürgersteig vor dem Verlagsgebäude. Die weltweit erste elektrische Laufschriften-Werbetafel verkündete 12 Jahre später Herbert Hoovers Sieg bei den Präsidentschaftswahlen. So bekam der Times Square über die kommenden Jahrzehnte sein grelles, farbenfrohes Gesicht.

Ausruhen, durchatmen – am Times Square
Ausruhen, durchatmen – am Times Square

Doch es war auch der Fortschritt, der zum Niedergang des Times Square führte. Mit den ersten Fernsehgeräten in den 1950er-Jahren blieben die Leute den großen Theaterhäusern fern. Es folgten dunkle Zeiten, nach und nach mussten die meisten Schauspielhäuser schließen, die Gebäude standen leer. Die Region verkam zum Drogenumschlagplatz und Rotlichtbezirk. Ohne gesetzlich geregelten Denkmalschutz riss man viele alte Gebäude ab, um Platz zu machen für freudlose Bürobauten aus Glas, Stahl und Beton. Das Schicksal des Times Square schien besiegelt, bis sich endlich Mitte der 1980er-Jahre Widerstand formierte. Engagierte Denkmalschützer appellierten eindringlich an den damaligen Bürgermeister Ed Koch, etwas zur Rettung der einstigen Ikone zu unternehmen: »Hey Mr. Mayor, it’s dark out there. Please keep the lights on in Times Square.« (»Hey, Herr Bürgermeister, es ist wirklich finster da draußen. Bitte lassen Sie die Lichter am Times Square nicht völlig ausgehen!«)
Koch reagiert prompt und erließ 1987 ein eigenes Baugesetz für den Platz (»signage ordinance«). Der einzigartige Charakter des Times Square aus Hochhäusern, Leuchttafeln und Vergnügungsangeboten sollte gegen alle Widrigkeiten erhalten bleiben. Was dem Touristen vielleicht willkürlich und mitunter größenwahnsinnig erscheinen mag, hat also durchaus Prinzip und ist bis auf den letzten Quadratzentimeter reguliert.


Klare Vorschriften und gute Einnahmen

Die Vorschriften lauten in etwa wie folgt: Eine Leuchtreklame am Times Square muss mindestens 93 qm groß sein und 15 Laufmeter entlang des Bürgersteigs einnehmen. Geregelt wird auch, in welche Richtung die Tafeln zeigen müssen, wie hell sie zu leuchten haben und wie bewegt sie sein sollen. Wenn ein Screen blinkt, darf die Dunkelphase nicht länger als drei Sekunden währen, ausgeschaltet werden dürfen die Werbeflächen erst ab 1 Uhr morgens.
Unklar ist, wie das Department of City Planning die Einhaltung der Regeln kontrolliert und Verstöße ahndet. Wahrscheinlich ist das jedoch gar nicht nötig, denn heute muss wohl niemand die Grundstückseigentümer mehr dazu zwingen, ihren diesbezüglichen Pflichten nachzugehen. Warum? Die Vermietung der Anzeigentafeln spült ihnen oft mehr Einkommen auf die Bankkonten als die der Büro- und Verkaufsflächen selbst.

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