Auf den ersten Blick ist Ostfriesland vor allem eins: flach und relativ unaufgeregt. Keine Berge, kaum Großstädte, keine Hektik, dafür endlose Deiche, ein paar Schafe, nicht viel los. Bei genauerem Hinsehen hat die Region jedoch jede Menge zu bieten. Unser Autor Dieter Katz weiß es am besten, er hat für die mittlerweile 7. Auflage des Reiseführers Ostfriesland – Ostfriesische Inseln wie immer ausgiebig vor Ort recherchiert. Hier verrät er seine persönlichen Highlights.
Juist ist nicht viel mehr als eine 17 km lange, aber an manchen Stellen nur 500 m breite Sandbank. Auf der schmalen Insel ist selbst in der Hochsaison immer ein ruhiges Plätzchen zu finden, begleitet allenfalls von eher beruhigenden Geräuschen wie dem Rauschen der Wellen, dem Ruf der Möwen oder dem Hufklappern der Pferdegespanne, die neben dem Fahrrad das Haupttransportmittel auf dem autofreien Eiland sind. Abgelegener geht es kaum in Deutschland, denn wegen der schmalen Fahrrinne kann von Norddeich aus die Fähre nur einmal am Tag die Insel erreichen. Zwar setzen seit Kurzem auch flache Schnellboote über, die Zahl der Tagesgäste und damit der Trubel hält sich dennoch in Grenzen. Entschleunigung pur!
Das erstaunlich grüne Spiekeroog ist mehr als ein malerisches, autofreies Eiland. Im Vergleich zu den anderen Ostfriesischen Inseln wurde Spiekeroog in den letzten Jahrhunderten kaum von Sturmfluten zerstört, weshalb sich hier besonders viel historische Bausubstanz und ein alter Baumbestand erhalten haben. Hinzu kommt die einzige von Pferden gezogene Schienenbahn Deutschlands, die – von 1885 bis 1945 als reguläres Verkehrsmittel – heute als Museumsbahn auf ihrer knapp 15-minütigen Fahrt die Gäste im „Waggon 21“ an den Weststrand der kleinen Insel bringt.
Bei Amdorf vor den Toren der Stadt Leer müssen breitere Fahrzeuge schon mal die „Ohren“, sprich die Außenspiegel, anlegen. Hier im ostfriesischen Nirgendwo befindet sich Deutschlands schmalste Autobrücke. Seit 1956 führt die enge Bogenbrücke mit einer Fahrbahnbreite von nur 1,85 m über den Fluss Leda, was bei der Breite heutiger Autos für echten Nervenkitzel sorgt.
Entspannter geht es nur 700 m entfernt bei Wiltshausen zu, wo der Fluss Jümme in die Leda mündet. Dort zeigen die Ostfriesen, wie ein nachhaltiger Fährbetrieb funktioniert: nämlich mit Muskelkraft. Seit mehr als 500 Jahren ziehen hier zwei Fährleute am stählernen Zugseil die bis zu drei Pkw (aber heutzutage vorwiegend Fahrradfahrer) fassende Pünte Wiltshausen über die Jümme, indem sie einen Holzklöppel in das Seil einharken und sich mit ihrem Gewicht dagegenstemmen.
Wer kennt ihn nicht, den gelb-rot geringelten Pilsumer Leuchtturm auf dem Deich bei Greetsiel. Spätestens seit dem Film „Otto – Der Außerfriesische“ ist er in aller Munde und hat Deutschlands nordwestliche Halbinsel aus dem Dornröschenschlaf geküsst. Seiner eigentlichen Bestimmung wurde dieser kleinste runde Leuchtturm Deutschlands allerdings nur kurz gerecht. 1889 erbaut, musste er schon 20 Jahre später wieder außer Dienst gestellt werden, weil das Fahrwasser vor Pilsum verlandete. Stattdessen dient das nur 11 m hohe Leuchtfeuer heute gerne als Trauzimmer und geleitet Verliebte in den Hafen der Ehe.
Nur ein paar Kilometer neben dem kleinen Otto-Turm hat längst ein wahrer Riese dessen Funktion mit übernommen. Dort streckt sich der Leuchtturm Campen satte 65,5 m in die Höhe und ist damit Deutschlands höchstes Seezeichen. Dabei sieht das Bauwerk gar nicht so aus wie ein typischer Leuchtturm, eher wie ein riesiger Strommast, dem man ein rotes Laternenhäuschen aufgesetzt hat. Er ist damit so etwas wie der Eiffelturm Ostfrieslands, denn die pyramidenförmige Stahlkonstruktion wurde 1889 erbaut und damit im gleichen Jahr wie das berühmte Pariser Wahrzeichen. Durch eine weiße Röhre im Inneren können Sie über 300 Stufen bis zu der aus Sicherheitsgründen vergitterten Aussichtsplattform hinaufsteigen und einen atemberaubenden Rundblick genießen.
Die abwechslungsreiche Krummhörn kann mit einer weiteren Perle aufwarten: dem geschichtlich bedeutsamen Fischerort Greetsiel. Schon von Weitem erkennt man die berühmten Zwillingsmühlen. Sie sind das Wahrzeichen des Küstenorts, auch wenn einer der beiden Galerieholländer wegen Sturmschäden schon länger flügellos auf bessere Zeiten wartet. Der weitverbreitete Ruf als schönster deutscher Sielhafenort sorgt allerdings auch für Heerscharen von Touristen. Dennoch lohnt es sich, durch die autofreien Gassen des historischen Ortskerns zu schlendern und in den kleinen Geschäften zu stöbern oder in einem der vielen Cafés und Restaurants zu verweilen. Das Herz des Ortes ist jedoch nach wie vor der 650 Jahre alte Hafen mit seinen vielen Krabbenkuttern.
Hafenidylle pur genießt man am von netten Giebelhäusern gesäumten, engen Hafenbecken von Neuharlingersiel ebenfalls. Auch hier sind noch immer malerische Fischkutter vertäut, die sich ebenso wie die im Außenbecken liegende Fähre nach Spiekeroog im Rhythmus von Ebbe und Flut langsam auf und ab bewegen. Das Flanieren ist auf zwei Ebenen möglich: direkt an der Kaimauer vorbei oder etwas erhöht auf der durch Deich und Spundwände gesicherten Anhöhe, an der die Hotels und Restaurants liegen. Das schafft Platz für die vielen Besucher, denn Neuharlingersiel ist ein beliebtes Seebad mit einem 600 m langen Sandstrand, ganz und gar erholsam und unprätentiös.
Heute wirkt der Ort ein wenig abgelegen. Doch hier stand im Mittelalter eine sehr bedeutende Zisterzienserabtei, zu der die größte Kirche zwischen Bremen und Groningen gehörte. Im Zuge der Reformation wurde das Kloster jedoch völlig zerstört. 2009 gab es dann eine Art Renaissance im Ihlower Forst: In einer beeindruckenden Mischung aus Stahl und Beton wurden die Umrisse des 45 m hohen Kirchenbaus im Originalmaßstab nachgebaut.
Über eine Wendeltreppe lässt sich sogar der hohe Dachreiter erklimmen. Im unterirdischen „Raum der Spurensuche“ können Besucher sich über Licht, Text und Töne durch den Raum leiten lassen und eine Ausstellung mit zahlreichen Ausgrabungsfunden bestaunen. Die Klosteranlage bei Ihlowerfehn ist nur zu Fuß oder per Rad zu erreichen. Pkw parken in einem Kilometer Entfernung; von dort läuft man einen Kilometer durch den Wald bis zur Klosterstätte, zu der auch ein schöner Garten samt Café gehört.
Nicht etwa der schiefe Turm von Pisa, sondern der im Jahr 1450 an das mittelalterliche Gotteshaus von Suurhusen angefügte Kirchturm galt lange als schiefster Turm der Welt. Denn sein schweres Mauerwerk ruhte bis zu seiner Sanierung nur auf einem Fundament aus Eichenbohlen, das im Laufe der Jahrhunderte unter der schweren Last nachgab. Auf jeden Fall neigte er sich so um 5,19 Grad und wurde damit mit einem Überhang von 2,47 m schiefer als der Turm von Pisa (nur 2,25 m). Doch im Jahr 2022 machte ihm ein anderer deutscher Turm den Titel streitig, nämlich ein mittelalterlicher Wehrturm im rheinhessischen Gau-Weinheim – mit einem nur um 0,23 Grad höheren Neigungswinkel. Als schiefster Kirchturm der Welt gilt der von Suurhusen allerdings nach wie vor.
Beide Städte umschließen die Ostfriesische Halbinsel wie eine Klammer: Emden im Westen und Wilhelmshaven im Osten. Und beide haben sich nach den verheerenden Bombardements im Zweiten Weltkrieg neu erfunden und zu sehenswerten kulturellen Zentren entwickelt. Mit dem Deutschen Marinemuseum, dem Küstenmuseum, dem Aquarium und dem Wattenmeer-Besucherzentrum zeigt Wilhelmshaven vor allem seine enge Verbindung mit dem Meer.
Emden hingegen ist nicht nur ein wichtiger Seehafen, sondern präsentiert sich mit dem Ostfriesischen Landesmuseum und insbesondere mit seiner Weltruf genießenden Kunsthalle auch als bedeutende Kulturstadt.