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Fläzen, wo die Form der Funktion folgt
Eine Nacht in der Villa Winternitz

Eine lächelnde Frau mittleren Alters blickt in die Kamera. Sie trägt einen grauen Pullover über einem hellen Top. Im Hintergrund ist eine Stadt mit einer Brücke und einem Fluss zu sehen, was auf eine Urlaubslandschaft hindeutet. Das Bild vermittelt einen freundlichen und entspannten Eindruck.
Autorin Renate Zöller

+++ Steckbrief +++

WO? Na Cihláˇrce 10 +++ Metro B and L, dann Bus 137 Malvazinky +++ 
WANN? Nach Absprache +++ Tel. 776 711 382 +++ LOOSOVAVILA.CZ +++ 
WIE VIEL? 9.500 Kronen pro Nacht (knapp 400 Euro) +++

Illustration eines Gebäudes mit gelben Linien.
Illustration: Mirja Schellbach

Auch Funktionalismus kann anheimelnd sein.

Schon von Weitem sticht die Villa Winternitz ins Auge: ein hell beleuchteter, weißer Kubus. Aus deckenhohen Fenstern strahlt das Licht warm in die kalte Nacht. Es ist die letzte Villa des Architekten Adolf Loos, ausgeführt 1932 von Karel Lhota. Das Gartentor steht offen. Wie ein Handschmeichler liegt der alte, runde Griff der Haustüre in der Hand. Einfach die Klinke runterdrücken und eintreten. Petra Koníčková sitzt hinter einem kleinen Schreibtisch aus feinstem, dunklem, gemasertem Holz und scheint nur auf uns gewartet zu haben. 18 Uhr. Kurz zeigt sie uns, wo Schlafzimmer und Bad sind – und die Küche mit gefülltem Kühlschrank und Kaffeemaschine. Fröhlich-sanfte Swing-Musik begleitet uns. Dann drückt sie mir den Hausschlüssel in die Hand und verabschiedet sich. Die Villa gehört uns. Eine Nacht lang.

Bild eines Wohnzimmers mit Sessel und Leselampe.
Gemütliche Leseecke – Foto: Renate Zöller

»Líbej m , d v e, sladce líbej«, singt R. A. Dvorsky,

während wir Teewasser aufsetzen. Unser Abendessen haben wir mitgebracht, schließlich wollen wir uns ganz zu Hause fühlen. Vom Esstisch aus blicken wir auf das Wohnzimmer anderthalb Meter unter uns. Die fast vollständig verglaste Fensterfront lässt es noch größer scheinen. Ja, die berühmte dreidimensionale Raumplanung von Loos ist definitiv extrem elegant! Loos verabscheute Ornamentik. Die Form müsse der Funktion folgen. Trotzdem zweifelt man keine Sekunde daran, dass sich die Familie Winternitz hier wohlgefühlt haben muss. Nach dem Essen gehen wir hinüber in die Lounge. Hierher zog man sich früher bei Empfängen zurück, um Diskretes zu besprechen – ohne den Raum zu verlassen. Genüsslich fläzen wir mit einem Glas Wein in dieser kleinen, sehr gemütlichen Leseecke. Unseren Absacker trinken wir auf der Terrasse auf dem Dach. Durch die typischen gemauerten »Bilderrahmen« à la Loos hat man einen wunderbaren Blick auf Prag hinunter. Die andere Seite nach Vyšehrad hin ist mittlerweile zugebaut. Dann ist es auch schon Zeit, sich ins erlesene Schlafgemach mit Spiegeltisch und antikem Schallplattenspieler zurückzuziehen.

Illustration von zwei Sesseln und Kaffeetisch vor einer Fensterfront. Die Linien sind gelb.
Illustration: Mirja Schellbach

Am nächsten Morgen werden wir von der Sonne geweckt,

im Schlafanzug setzen wir uns mit einem Kaffee ins Wohnzimmer. Um uns herum Fenster, die ganze Villa ist lichtdurchflutet. Um 11 Uhr sind wir mit David Cysař verabredet, dem Urenkel von Josef Winternitz und Hausherrn der Villa. Bis Anfang der 90er-Jahre wusste der junge Kameramann und Familienvater nicht einmal, dass er jüdische Wurzeln hat. Da erst zeigte die Großmutter den Angehörigen ihr Geburtshaus. 1941 war die Familie enteignet worden, nur Winternitz’ Witwe und seine Tochter überlebten Auschwitz. Ab 1945 wurde die Villa als Kindergarten genutzt. Erst 1997 bekam die Familie sie zurück, in desaströsem Zustand. Mit wenig Geld und viel Hilfe von der gesamten Verwandtschaft restaurierte Cysařs Vater sie. David Cysař beschloss 2017, die Schönheit der Villa mit anderen zu teilen: bei Konzerten, Lesungen, Führungen und Übernachtungen. Josef Winternitz wünschte sich einst ein offenes Haus mit vielen Gästen. Sein Urenkel geht noch weiter. Er gibt gelegentlich sogar den Schlüssel aus der Hand.

Foto einer bunten Häuserreihe.
Häuserreihe aus den 1920er-Jahren – Foto: Karolína Vránková

Wenn man schon mal hier ist:

An der Bushaltestelle Malvazinky vorbei Richtung Friedhof stößt man in den Straßen Xaveriova, Malá Xaveriova und Pravoúhlá auf eine außergewöhnliche Siedlung: winzige Reihenhäuser, jedes nur 3,5 Meter breit – eine Art sozialer Wohnungsbau aus den 1920er-Jahren. Und dann unbedingt ins Café Snídejte Šampaňske, übersetzt: Frühstücken Sie Champagner! (Xaveriova 56). Wenn das nicht ein würdiger Abschluss für eine Nacht in der Traumvilla Winternitz ist!

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