Reportage

Vom Müllparadies zur Streuobstwiese

Seit 2013 gibt es unseren Reiseführer zum Odenwald, in dem zahlreiche Tipps für aktive Reisende enthalten sind. Auch das Angebot für Kinder ist ziemlich groß – und reicht vom Lama-Tracking bis zur Sommerrodelbahn … Wer sich noch stärker auf den Odenwald einlässt, spürt, was die pure Natur zu bieten hat. Unsere Reisebuchautorin Stephanie Aurelia Staab hat sich die Erlebnisangebote einer Naturschutzinitiative genauer angesehen.


Eigentlich wollte ich pünktlich um 9 Uhr bei WildNatur für Kids aufschlagen. Aber dann kamen zwei Baustellen mit Straßenvollsperrung dazwischen, die mir kurz das Gefühl von »Lost in Odenwald« gaben … Durch die umfangreiche Recherche für den Reiseführer sind mir die meisten Ecken sehr gut bekannt. Die Gegend um Wilhelmsfeld scheinbar nicht gut genug. Versagt das Navi, helfen Orientierungssinn und konventionelle Karten. Und so trudelte ich dann doch um 10 Uhr auf der Streuobstwiese Wilhelmsfeld ein. Zur Begrüßung reckten sich mir elf neugierige Köpfe entgegen: sieben Kinder, vier Erwachsene. Die Erlebniswoche hatte bereits begonnen.

Alles so schön bunt hier!

Die Streuobstwieseninitiative Wilhelmsfeld e.V. vertritt den natürlichen Umgang der Kinder mit der Natur (Foto: Stephanie Aurelia Staab)
Die Streuobstwieseninitiative Wilhelmsfeld e.V. vertritt den natürlichen Umgang der Kinder mit der Natur (Foto: Stephanie Aurelia Staab)

Die Vorstellungsrunde hatte ich verpasst. Im Schnelldurchlauf wurden mir die Namen aller Teilnehmer genannt. Nun wurden Ideen gesammelt, was man auf einer Streuobstwiese so alles unternehmen könnte. Wie wäre es beispielsweise, mit Blumen zu malen? – »Mit Blumen malen? Wie geht denn das?« Meine Frage wurde damit beantwortet, dass die Kids ausschwirrten und mit Ringelblumen, Klee, Gras, Klatschmohn, Holunderbeeren und Indischen Springkraut in den Händen zurückkamen. Die wurden gleich mit viel Schwung auf einem Blatt Papier verrieben. Aha, so geht das! Schön bunt.
»Die bemalten Blätter heben wir uns auf«, sagte Susanne Steuer-Lühr. »Daraus basteln wir uns hübsche Etiketten für das Kräutersalz, das wir noch diese Woche herstellen werden.« Susanne Steuer-Lühr ist Sozialpädagogin, aktuell in Ausbildung zur Streuobstwiesenpädagogin und eine der hauptverantwortlichen, treibenden Kräfte der Naturschutz- und Streuobstwieseninitiative Wilhelmsfeld e.V. Während die Kurzen, die zwischen sechs und zwölf Jahren alt waren, über die Wiese sprangen, um Fallobst für ein Kompott zu sammeln, erzählte sie mir über die Entstehungsgeschichte der Streuobstwiese.

Am Anfang stand ein verwildertes Grundstück

Sozialpädagogin Susanne Steuer-Lühr bei der Arbeit (Foto: Stephanie Aurelia Staab)
Sozialpädagogin Susanne Steuer-Lühr bei der Arbeit (Foto: Stephanie Aurelia Staab)

Susanne Steuer-Lühr rannte offene Türen ein mit der Idee, die Streuobstwiese zu rekultivieren. Die Grüne Initiative Wilhelmsfeld, die sich für den Erhalt der Lebensqualität in der Region intensiv engagiert, hatte das damals verwilderte Grundstück bereits ins Auge gefasst; sie förderte das Vorhaben. »Bei den Aufräumarbeiten kam ein wahres Müllparadies zum Vorschein, darunter zwei Sofas, alte Hütten und einige Zementplatten. Von dem Plastikmüll, der sonst noch herumlag, ganz zu schweigen. Außerdem mussten wild gewachsene Bäume abgeholzt werden. Der Bauhof der Kommune Wilhelmsfeld hat uns unentgeltlich bei der Entsorgung geholfen.« Apropos: Ohne Geld konnte auch das Streuobstwiesenprojekt nicht realisiert werden. Finanzielle Unterstützung boten unter anderem der Naturpark Neckartal-Odenwald mit Mitteln des Landes und die Landesbank Baden-Württemberg.

Wo früher Haselsträucher alles überwucherten, wurden ein Kräutergarten angelegt und junge Obstbäume gepflanzt. »Hier kann man auch Baumpate werden«, erklärte die zwölfjährige Lea. Ein Bäumchen wurde vor kurzem anlässlich einer Hochzeit gesetzt. Später zeigte mir Lea gemeinsam mit ihrer Freundin Antonia einen ihrer Lieblingsbäume im Wäldchen hinter dem Kräutergarten. Dort klettern die beiden am liebsten.

Gemacht wird, was die Kinder möchten

Ein Kletterbaum für Lea und Antonia (Foto: Stephanie Aurelia Staab)
Ein Kletterbaum für Lea und Antonia (Foto: Stephanie Aurelia Staab)

Auf dem Weg dorthin kamen wir an einem Feld mit Indischem Springkraut vorbei, und Lea hielt mir gleich den schwarzen, reifen Samen hin. »Probier mal!« Susanne Steuer-Lühr ergänzte sofort, dass man nicht zu viel davon zu sich nehmen sollte. Nun, ein Samenkorn konnte man ja mal testen. Schmeckte interessant und fremd. »Hier ist noch viel mehr essbar. Heute Mittag gibt es gegrillte Kartoffeln mit Kräuterquark«, sagte Antonia. »Und welche Kräuter werden da verwendet?« Ich war neugierig, denn die Klassiker Schnittlauch und Petersilie hatte ich bislang nicht entdeckt. »Pfefferminze, Oregano, Bohnenkraut, Blüten von der Ringelblume und Frauenmantel«, zählten die beiden Mädchen abwechselnd auf. Das ist auf jeden Fall eine ausgefallene Kräuterquark-Variante.

»Die Kinder geben den Rhythmus vor. Sie dürfen hier ihren Impulsen folgen, und wir gehen darauf ein«, sagte Susanne Steuer-Lühr. Für sie ist es immer wieder spannend zu sehen, wie unterschiedlich und natürlich Jungen und Mädchen in die Umgebung streifen. Während Jungs sofort auf Erkundungsgang gehen, fangen Mädchen an, sich mit phantasievollen Rezepturen zu beschäftigen.

Auch für Erwachsene gibt es ein Naturprogramm: Die Sozialpädagogin bietet Kräuterwanderungen an. Sie konzentriert sich dabei auf wenige Pflanzen, die sie ausgiebig mit Geschichten und Wissenswertem garniert: Wofür sind sie nützlich? Wie werden sie verwendet und konserviert? Wenn sie mal selbst nicht weiter wissen sollte, schickt sie ein Bild der Pflanze an einen Biologen, der die Streuobstwiese kenntnisreich unterstützt und das Gewächs bestimmt.

Wissenswertes aus und um Wilhelmsfeld

Gemacht wird, was die Kinder möchten (Foto: Stephanie Aurelia Staab)
Gemacht wird, was die Kinder möchten (Foto: Stephanie Aurelia Staab)

Zum Schluss noch ein paar Fakten zum Ort: Wilhelmsfeld ist im Vergleich zu vielen anderen Gemeinden im Odenwald ziemlich jung. Seine Entstehungszeit wird um das Jahr 1710 datiert. Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz gestattete Siedlern, in dem damaligen Rodungsgebiet ein kleines Dorf zu errichten. Der Ort liegt rund 20 Kilometer nördlich von Heidelberg entfernt auf einer Höhe von bis zu 530 Metern. Man kann somit eine reiz- und anspruchsvolle Wanderung von der schönen Romantikstadt aus starten. Von Heidelberg-Ziegelhausen fährt regelmäßig die Buslinie 34 hinauf ins Mittelgebirge und wieder zurück. So können sich auch entspannt Wanderungen rund um Wilhelmsfeld gestalten lassen. Durch die Höhenunterschiede und die abwechslungsreiche Vegetation – Wälder, Wiesen, Felder – werden Wanderer mit wunderbaren Panoramen belohnt.

Mit Blumen malen – eine Naturschutzinitiative im Odenwald macht es möglich (Foto: Stephanie Aurelia Staab)
Mit Blumen malen – eine Naturschutzinitiative im Odenwald macht es möglich (Foto: Stephanie Aurelia Staab)

Wilhelmsfeld ist zudem als Luftkurort ausgezeichnet. Seine Sehenswürdigkeiten lassen sich an einer Hand abzählen und können bei Wander- oder Radtouren erschlossen werden. Dazu gehören der Teltschik-Aussichtsturm auf dem Schriesheimer Kopf und ein Schaukohlemeiler nahe dem Naturfreundehaus Kohlhof. Eine Tafel am Meiler informiert über die Gewinnung von Holzkohle in längst vergangenen Tagen. Seit 2009 erinnert außerdem ein Sissi-Gedenkstein daran, dass die österreichische Kaiserin 1885 auf einer Wanderung in Wilhelmsfeld kurz gerastet hat. Mit der Streuobstwiese von der Naturschutzinitiative hat der Ort ein Erlebnisangebot mehr im Programm. Den Kindern gefällt es, im Freien zu spielen, kreativ mit Blumen und Kräutern umzugehen und von der Natur zu lernen.
Und ich bin davon auch schwer begeistert! Ganz sicher komme ich auf einen Besuch und eine Wandertour wieder vorbei – dann aber, ohne mich mit dem Auto in die Irre schicken zu lassen.


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