Reportage

Zwischen Touristentrubel und Winterschlaf -
Alltagserfahrungen auf Thássos

»Thassos & Samothraki« ist unser Netzrenner: Viele Griechenlandfreaks halten es für das »beste jemals erschienene Buch« über die beiden Inseln (siehe z. B. www.thassos-island.de); inzwischen liegt der Titel in 4. Auflage 2008 vor. Für unseren Newsletter haben Antje und Gunther Schwab den spannenden Werdegang einer Kielerin verfolgt, die seit 1981 auf Thássos lebt. Von einer Geburt auf dem Schiff, extremen saisonalen Unterschieden und der manchmal gekappten Verbindung zum Festland ist die Rede. Und davon, dass »der Kampf, den man führe, um in einer anderen Kultur leben zu können, auch eine Chance ist, sich selbst zu entwickeln«.


Während unserer Recherchereisen auf Thássos lernen wir immer wieder einige dort lebende Deutsche kennen. Unter ihnen ist die aus Kiel stammende Ilka Mastrandreou, die seit 1995 auf der Insel lebt und arbeitet. Ilka ist im Sommer außerordentlich aktiv. Die dreifache Mutter betreibt nicht nur zusammen mit ihrem griechischen Ehemann Stélios in der Inselhauptstadt Liménas eine beliebte Apartmentanlage, sondern arbeitet auch als Reiseleiterin und ist vielen Thássos-Reisenden als Organisationstalent auf dem EROS-Inselrundfahrtschiff bekannt. Auf ihrer Website www.lets-go-thassos.com gibt sie interessierten Besuchern außerdem Tipps, die den Urlaub auf Thássos noch schöner machen. Und bei all ihrer Arbeit ist sie stets gut gelaunt.
Wir wurden neugierig und wollten mehr von Ilka wissen. Wie lebt es sich im Winter auf der Insel, wenn sie kein sonniges Paradies ist? Wie hat alles angefangen? Und warum überhaupt Thássos? Hat sie Heimweh nach Deutschland? Was vermisst sie? Oder vermisst sie vielleicht gar nichts?

1981 kam Ilka auf der Suche nach den Spuren der Vergangenheit ihres Vaters, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat u. a. auch auf Thássos gewesen war, auf die Insel und lernte dort bald Stélios kennen. Doch bei aller Liebe – in Griechenland zu bleiben, konnte sie sich damals nicht vorstellen; das Land verunsicherte sie, wirkte laut und fremdartig. Also ging Stélios mit ihr nach Deutschland, wo dann die drei Kinder geboren wurden. Natürlich reisten sie im Urlaub immer wieder nach Thássos, und auch Ilkas Schwiegermutter ließ es sich nicht nehmen, die junge Familie regelmäßig in Deutschland zu besuchen. Die Kontakte zu Stélios‹ griechischem Freundeskreis in Kiel, in dem u. a. traditionelle Feste wie Ostern gemeinsam gefeiert wurden, erleichterten für Ilka den Zugang zur griechischen Mentalität. Außerdem lernte sie Griechisch und war mehr und mehr in der Lage, an Gesprächen teilzunehmen. Irgendwann merkte sie dann, dass sich ihre Einstellung gegenüber Stélios‹ Heimat verändert hatte – und sie bereit war, nach Thássos umzusiedeln.


Die ersten Jahre auf Thássos

Am Kap Evraiokastro
Am Kap Evraiokastro

Die erste Zeit war schwierig. Die Kinder konnten kaum die Sprache, und insbesondere der Älteste, Níkos, fühlte sich auf dem Gymnasium anfangs schlichtweg überfordert. Die Schrift erschien ihm wie ein Buch mit sieben Siegeln, und mit Grauen erinnert er sich heute noch daran, wie er im Fach Altgriechisch die insgesamt vier verschiedenen Betonungszeichen auf die unbekannten und kaum lesbaren Wörter setzen sollte. Es war auch deshalb ein besonders harter Anfang für die Kinder, weil sie nicht nur ihre Freunde aus Kiel, sondern auch lieb gewordene Freizeitaktivitäten wie Tennis- und Klavierunterricht vermissten. Dafür hätten sie nun eigens aufs Festland nach Kavála fahren müssen, was viel zu teuer und zeitaufwendig gewesen wäre.
Stélios und Ilka hingegen mussten einen Job finden, insbesondere im Winter ein Riesenproblem, denn auf der Insel gibt es außerhalb der Tourismusbranche kaum Arbeitsplätze. In den ersten Jahren gingen sie oder er deshalb in der kalten Jahreszeit abwechselnd zurück nach Deutschland, um dort Geld zu verdienen: die Trennung der Familie wurde notgedrungen in Kauf genommen. – Während der kurzen Sommersaison vermieteten sie Ferienapartments. Die Gäste vermittelten ihnen anfangs Freunde und Verwandte. Vier Jahre lang organisierte die ganze Familie die Ausflüge des kleinen Inselrundfahrtschiffes EROS. Stélios arbeitete auf dem Boot, die jüngeren Kinder verteilten Werbezettel am Strand und in der Stadt, während Níkos und Ilka die Tickets verkauften. Als Ilka schließlich eine Stelle als Reiseleiterin bekam, entspannte sich die Lage.


Extreme saisonale Unterschiede

Schwierig blieb der Wechsel zwischen Sommer und Winter. An die ganzjährige Regelmäßigkeit der Arbeitszeiten in Deutschland sowie an den Wechsel zwischen Arbeits-, Sonn- und Feiertagen bzw. Urlaube gewöhnt, war nun auf Thássos völliges Umdenken nötig. Saisonanfang heißt hier Arbeit mit 12- bis 15-stündigem Stress an sieben Tagen in der Woche. Saisonende bedeutet dagegen absolutes Eintauchen in Ruhe, aber auch Einsamkeit und Langeweile. Die beiden, auch Stélios, der sich in Deutschland an den ganz anderen Rhythmus gewöhnt hatte, mussten lernen, »von 1000 Umdrehungen plötzlich auf ein Minimum herunterzufahren«. Dabei kam Ilka zugute, dass sie einst einen kreativen Beruf, Floristmeisterin, gelernt und ausgeübt hatte. Denn sie begann, aus Naturmaterialien, die die Insel hergibt, Spiegelrahmen, Muschelbäume sowie andere Dekoartikel und auch weihnachtlichen Schmuck herzustellen. Mit der Zeit taten sich immer mehr Tätigkeitsfelder auf, die auch heute noch Ilkas Winter prägen: Lesen, Wandern mit Freunden, Yogakurse, die Weiterentwicklung der eigenen Website, Spielenachmittage, denn auch sie teilt die Liebe der Griechen für das Tavli-Spiel, eine griechische Variante des Backgammon; sie kocht Marmelade für den Sommer und schnippelt Krautköpfe für eine ihrer geheimen, aus Deutschland bewahrten Leidenschaften: das Sauerkraut. Mittlerweile erscheint ihr diese einst öde Zeit des Winters viel zu kurz.


Besonderheiten des Insellebens

Vergangenheit und Gegenwart liegen nah beieinander
Vergangenheit und Gegenwart liegen nah beieinander

Thássos liegt nur knapp 8 km vom Festland entfernt und ist im Sommer nahezu rund um die Uhr mit der Provinzhauptstadt Kavála sowie dem kleinen Örtchen Keramotí verbunden. Doch im Winter sieht das ganz anders aus, und auch an die damit verbundenen Schwierigkeiten musste Ilka sich erst gewöhnen. In den ersten Jahren passierte es häufig, dass sie mit einem oder mehrerer ihrer Kinder nach einem Arztbesuch oder einer Einkaufstour wegen eines plötzlichen Wetterumschwungs auf dem Festland festsaß und tagelang unfreiwillig in Kavála bzw. Keramotí bleiben musste. Da war es gut, dort Freunde zu haben, die einem den teuren Hotelaufenthalt ersparten. Mittlerweile verfügt die Fährgesellschaft über ein Schiff, das auch bei 8 Beaufort, also bei stürmischem Wind, noch unterwegs sein darf, so dass derartige Verlängerungen kaum mehr vorkommen.
Eine Freundin von Ilka machte eine ganz besondere Erfahrung mit dem Inselleben. Hochschwanger fuhr sie am Silvesterabend mit der Fähre nach Kavála, als plötzlich die Wehen einsetzten. Bis die Fähre am Hafen anlegte, war das Kind schon geboren, der Kapitän selbst hatte sich als Geburtshelfer betätigt – immerhin wurde er dann der Taufpate des kleinen Mädchens. Zum Glück ging in diesem Fall alles gut. Aber wer möchte heutzutage schon ein Kind ohne den Beistand eines qualifizierten Arztes auf die Welt bringen? Kein Wunder, dass die meisten Frauen schon einige Tage vor dem errechneten Geburtstermin aufs Festland fahren und dort bei Freunden und Verwandten abwarten, bis es soweit ist. Ältere Thassiotinnen erzählen ihnen immer wieder davon, dass früher viele Kinder auf dem Weg zum Festland auf den Fischerbooten zur Welt kamen, und auch Ilkas Schwiegermutter hatte so ihren ersten Sohn geboren.
Auch als die Kinder den Führerschein machten, stellte die Insellage eine Hürde dar, denn auf Thássos ist das nicht möglich. Also mussten Ilka oder Stélios nach der Schule schnell in den 15 km von ihrem Wohnhaus entfernten Hafen Skála Prínou gebracht werden. Von dort ging es ca. 80 Minuten mit der Fähre nach Kavála. Nach Theorie- und Übungsstunden kamen sie mit der letzten Fähre zurück nach Skála Prínou, wo die Eltern sie dann wieder abholten, da so spät am Abend kein Bus mehr verkehrt. Kein Wunder also, dass die ganze Familie aufatmete, als die Prüfung endlich geschafft war.


Sprachprogramme für Auswanderer

Am malerischen Fischerhafen legen die Ausflugsboote ab
Am malerischen Fischerhafen legen die Ausflugsboote ab

Schon bald nach der Umsiedlung beschäftigte Ilka die Frage, wie andere Frauen diesen Schritt und die damit verbundenen Schwierigkeiten bewältigt hatten, und sie knüpfte Kontakt zu einer deutschen Frauengruppe im Süden der Insel. Freundschaften entwickelten sich, immer mehr Ausländerinnen kamen dazu, die alle den Wunsch hatten, besser Griechisch zu lernen. Um über öffentliche Stellen an Sprachprogramme heranzukommen, gründete die Gruppe einen Verein, »Die Internationalen Freunde Thássos«, über den drei Jahre lang kostenfreie Griechischkurse für Ausländer auf der Insel angeboten werden konnten. Zudem organisieren Ilka und ihre Freunde bis heute alljährlich einen Weihnachtsbazar, auf dem neben deutschem Weihnachtsgebäck auch Adventskränze, Türschmuck, Gestecke, Holzarbeiten und vieles andere mehr verkauft wird. Der Erlös kommt der Krankenstation in Prínos zugute.
Auch nach Thessaloniki haben »Die Internationalen Freunde« wichtige Kontakte aufgebaut, die das Leben erleichtern. Zum Beispiel hält nun das deutsche Generalkonsulat ein- bis zweimal im Jahr sogenannte Konsularsprechtage auf der Insel ab, so dass die weite Anreise in die makedonische Metropole (wo das Konsulat sitzt) erspart bleibt, wenn Anträge gestellt bzw. Urkunden beschafft werden müssen. Das deutsche Generalkonsulat ist für die in Griechenland ansässigen Deutschen die wichtigste Verbindungsstelle nach Deutschland, und auch die Institution, die z. B. bei Eheschließungen, Namensänderungen, Streitigkeiten bezüglich des Sorgerechts, Erwerb von Grundeigentum, Zulassung eines Pkw zur Seite steht.
Kirchliches Leben gibt es für evangelische Christen über einen Treffpunkt in Kavála, der zur evangelischen Kirchengemeinde Saloniki gehört. Die Pastorin Dorothe Vakális bietet Hilfe und Infos für alle in der Diaspora Lebenden und hält zudem mehrmals im Jahr Gottesdienste in Kavála ab.


Ausblick

Mittlerweile lebt Ilka seit 13 Jahren auf der Insel; 1981, meint sie, hätte sie sich das nie vorstellen können. Doch sie sei hier heimisch geworden, und trotz aller Schwierigkeiten freue sie sich immer wieder, wenn sie nach einem Deutschlandbesuch mit der Fähre wieder zu »ihrer« Insel zurückfahre. Natürlich, gibt sie zu, vermisse sie so einiges, nicht nur ihre Eltern, die sie alljährlich im Winter mindestens einmal besucht, sondern auch Theater- und Kinobesuche sowie Bowlingabende. Und zum Glück überkomme sie der Heißhunger auf eine Currywurst nur selten. Der Kampf, den man führe, um in einer anderen Kultur leben zu können, sei, so meint sie, auch eine Chance, sich selbst weiterzuentwickeln. Staunen könne sie z. T. noch immer über die Andersartigkeit der griechischen Mentalität, aber auch über die Entwicklungen und Veränderungen bei sich selbst. Wichtig sei es, offen zu sein für die vielen Anregungen und Neuheiten, aber auch die eigene Persönlichkeit zu wahren. Dann könne man den Balanceakt zwischen den beiden Kulturen bewältigen, den man sich vielleicht vorher nicht zugetraut hätte. Manchmal, so lächelt sie, verleihe einem das Leben eben Flügel …


Weitere Informationen:

Ilka und Stélios vermieten in Liménas unweit vom Zentrum ihre Apartments Ánthos, hübsch eingerichtete, z.T klimatisierte Apartments mit bis zu 5 Betten, die auch über einen Fernseher mit Satellitenempfang sowie über einen Internetzugang verfügen. Wer will, kann im nahe gelegenen Hotel Antigónis den Pool benut-zen, auch Früh-stück kann man sich dort ser-vieren lassen – oder man nutzt den tägli-chen Brötchen-Service und bereitet die Mor-genmahlzeit selbst zu. Sie erreichen die Anlage, indem Sie von der Straße nach Prínos dem Schild »Hera-Zeus-Tor« nach rechts folgen und dann unmittelbar nach einer kleinen Brücke nach links ab-zweigen. Zwei Personen bezahlen ca. 38-46 €. Ganzjährig geöffnet, www.lets-go-thassos.com.
Die Eros II bietet regelmäßig Touren zu den schönsten Stränden, darüber hinaus aber auch Fishing-Trips an. Einen kleinen Infostand für diese empfehlenswerten Ausflüge finden Sie am alten Fischerhafen.

Der Reiseführer »Thássos & Samothráki« enthält eine Fülle von praktischen Informationen zu den beiden Inseln. Da der Platz für die genaueren Beschreibungen der von Thássos aus sehr beliebten »Ausflüge aufs Festland« nicht ausreichte, finden Sie ein entsprechendes Zusatzkapitel unter

Passend dazu