Wussten Sie, dass ...?

Teil 26: Flucht aus Deutschland
oder Der Umsatz mit den (unerfüllten) Träumen

Die Flüchtlingsströme reißen nicht ab, die Toten im Mittelmeer sind beschämend für ganz Europa. Auch im 19. Jahrhundert hat es eine Auswanderungswelle gegeben. Damals wollten viele aus Deutschland weg – via den Hamburger Hafen. Unser Elbmetropolen-Experte Matthias Kröner hat genauer hingesehen und einen Artikel zur »Flucht aus Deutschland« verfasst.


Besonders beliebt waren sie nie: die aus ganz Europa eingereisten Auswanderer in Hamburg. Das Geld, das sie brachten, allerdings schon. Viele Logierhäuser und Privatpensionen buhlten um die Emigranten, die sich nicht selten über Gebühr lange in der teuren Hafenstadt aufhalten mussten – und ruinierten; der Schiffsverkehr war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch sehr unregelmäßig.
1892 hatte die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, besser bekannt als HAPAG, endlich die ersten Auswandererbaracken am Großen Grasbrook erbauen lassen (ausgerechnet dort, wo heute das Kreuzfahrtterminal steht), ab 1901 hielten sich die Emigranten auf der Veddel auf, einer Elbinsel in der Nähe der Hafenanlagen.


Eine mit Sklaventransporten vergleichbare »Tortour«

Die Träume der Auswanderer entpuppten sich oft als Luftblasen (Foto: Matthias Kröner)
Die Träume der Auswanderer entpuppten sich oft als Luftblasen (Foto: Matthias Kröner)

Was gerne vergessen wird: Die Auswanderung von ca. 5 Mio. Europäern war von mehreren Regierungen gewollt. So ließ sich die soziale Frage (= Verelendung der Arbeiter und Bauern) wunderbar nach Amerika, Kanada oder Australien verlagern. Auch ca. 2,7 Mio. osteuropäische Juden sahen in der Abwanderung den einzigen Ausweg aus Pogromen und Ausgrenzung. Da sie keinen preußischen Boden betreten sollten, transportierte man sie – schon damals, wenn auch einigermaßen freiwillig – in Güterzügen.
Längst nicht alle Auswanderer erreichten ihr Ziel. Nach Schätzungen starben zu Beginn der ersten Emigrationswelle von 1830 bis 1840 zwischen 7000 und 8000 Menschen während der Überfahrt und bei Schiffbrüchen. Die Überfahrt selbst muss man sich im Rückblick eher als eine mit Sklaventransporten vergleichbare »Tortour« denn als angenehme Schiffsreise vorstellen. Obwohl die Emigranten nicht selten ihren kompletten Besitz für ein Ticket verhökert hatten, erwarteten sie an Bord der Schiffe u. a. katastrophale hygienische Zustände, die von den Agenten der großen Reedereien verschleiert wurden. Als besonders skrupelloser Profiteur gebärdete sich der Hamburger Reeder Henry Brarens Sloman (er ist der Bauherr des 2015 von der UNESCO geadelten Chilehauses). Zeitzeugen beschrieben die sechs- bis achtwöchigen Seereisen als »wahre Hölle« und »Menschenstall«, während er wie selbstverständlich zum Millionär aufstieg.


Albert Ballins Geschäftssinn und technische Neuerungen

Multimedial auf dem allerneuesten Stand, das Auswanderermuseum BallinStadt auf der Veddel (Foto: Matthias Kröner)
Multimedial auf dem allerneuesten Stand, das Auswanderermuseum BallinStadt auf der Veddel (Foto: Matthias Kröner)

Erst Albert Ballin (1857-1918), Sohn eines Auswanderer-Agenten und späterer Generaldirektor der HAPAG, begriff, dass die zahlenden Passagiere kein Stückgut, sondern Kunden waren, um die man sich an Bord kümmern musste (z. B. durch ausreichende Verpflegung und einen Arzt für Notfälle). Die technischen Neuerungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren ebenfalls ausschlaggebend für eine Verbesserung der Reisebedingungen – und machten Hamburg zum größten Auswandererhafen Deutschlands und Ballin zu einem der erfolgreichsten Geschäftsmänner der Kaiserzeit. Zwischen 1905 und 1912 schaffte man eine Atlantiküberquerung auf den neuesten Schnelldampfern in sechs bis zehn Tagen.
Am Ziel ihrer Träume angelangt, halbwegs bei Kräften oder extrem ausgezehrt, begann dann für die Auswanderer mit dem Blick auf die Lady Liberty eine ungewisse Zukunft mit ganz anderen, ganz neuen Schwierigkeiten …

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