Lesezeit: 1 minAbseits der Routen

Teil 17: Kanada
oder Die Gemeinschaft der Geisteskämpfer

Heute gibt es in British Columbia nur noch knapp 2.000 Duchoborzen. Die in Georgien ungelittene Glaubensgemeinschaft ließ sich in der »kanadischen Prärie« nieder, doch brachte auch dort die Obrigkeit gegen sich auf: indem sie den Wehrdienst oder die Schulpflicht verweigerte. Die Fronten verhärteten sich, die Situation eskalierte bis hin zu Anschlägen und der Zwangsinternierung von Kindern. Martin Pundt, unser Autor von Kanada – der Westen mit Südost-Alaska, hat sich auf eine schwierige Spurensuche begeben.  

Ein Mann mit grauem Bart und Sonnenbrille lächelt in die Kamera. Er steht anscheinend auf einem Schiff, wie die Reling im Hintergrund zeigt. Hinter ihm erstreckt sich ein blauer See unter einem bewölkten Himmel. Das Foto wirkt fröhlich und spontan.

Das Städtchen Castlegar im Süden British Columbias war vor gut hundert Jahren der Endpunkt einer langen Reise für die Duchoborzen. Diese christlich-orthodoxe Religionsgemeinschaft blieb im Russland des späten 19. Jahrhunderts Diskriminierung und Deportationen ausgesetzt. Nachdem der Schriftsteller Leo Tolstoi 2.000 Mitgliedern die Überfahrt nach Amerika finanziert hatte, wanderten viele nach Saskatchewan aus, da die »kanadische Prärie« ihrer georgischen Heimat ähnelte.
Peter Vasilevich Verigin, geistlicher Führer eines gemäßigten Flügels, kaufte ab 1908 Land rund um Castlegar an der Grenze zu den USA. Mehr als 8.000 Duchoborzen siedelten schließlich hier und pflanzten in dem milden Klima vor allem Obstbäume an. Sie erbauten auch die eindrucksvolle Brilliant Bridge, die seit 1913 den Kootenay River überspannt und heute unter Denkmalschutz steht.


Rätselhafter Tod im Nachtzug

Eine detailreiche Darstellung einer historischen Küche mit Holzböden und hellen Wänden. Im Raum stehen alte Schränke, Tische und ein Herd, alles dekoriert mit traditionellen Küchenutensilien. Durch das Fenster fällt natürliches Licht in den Raum. Die Szene vermittelt einen Eindruck von Nostalgie und ländlichem Leben vergangener Zeiten.
im Doukhobor Discovery Centre kann man sich über Küche und Kultur der Glaubensgemeinschaft informieren (Foto: Martin Pundt)

Obwohl die Gemeinschaft Gewalt ablehnt – noch heute dürfen die Kinder kein Kriegsspielzeug besitzen –, kamen die Geisteskämpfer immer wieder mit der Obrigkeit in Konflikt: Sie verweigerten den Wehrdienst ebenso wie die Schulpflicht für ihre Kinder und stellten sich auch sonst gegen staatliche Reglementierung. Auch innerhalb der Duchoborzen gab es Spannungen.
In der Nacht des 29. Oktobers 1924 kamen schließlich bei einer Explosion in einem Zug Verigin und sieben Mitreisende ums Leben. Bis heute halten sich zahlreiche Spekulationen: Ging es um Machtkämpfe oder war Eifersucht im Spiel? Verigin war in Begleitung einer 17-Jährigen, die ebenfalls starb … Auch die kanadische Regierung könnte hinter dem Anschlag gesteckt haben. Die Umstände sind bis heute ungeklärt – und werden es wohl bleiben: Die Ermittlungsakten dürfen nach wie vor nicht eingesehen werden, da es sich um ein laufendes Verfahren handele …
»Ein Fall für Hercule Poirot, sobald er den Mord im Orient-Express gelöst hat«, scherzt Sandy, Mitarbeiterin im Duchoborzen-Museum, dazu. Sie hat wie alle dort ihre ganz persönliche These: »Es war der Ku-Klux-Klan, der damals eine sowjetische Invasion befürchtete – für die waren wir alle Kommunisten!«


Die nackten Söhne der Freiheit

Eine Vitrine zeigt historische Kleidungsstücke, darunter drei Hemden an Kleiderbügeln in Weiß, Blau und wieder Weiß. Darunter liegen alte Schuhe und weitere Gegenstände auf einer weißen Unterlage. Ein Schwarz-Weiß-Foto ist ebenfalls in der Vitrine zu sehen. Die Vitrine wirkt wie ein Teil einer Museumsausstellung.
Die durch das Attentat zerstörte Kleidung von Peter Vasilevich Verigin (Foto: Martin Pundt)

Als die Behörden Verigins Sohn Peter Petrovich, der die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, wegen Unruhen deportieren lassen wollten, protestierten zahlreiche Duchoborzen auf ihre Weise: mit Nackt-Demos und Brandstiftungen. Seit 1932 wird daher öffentliche Nacktheit in Kanada mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft – nach wie vor gibt es im ganzen Land keinen offiziellen FKK-Strand …
1952 griff W. A. C. Bennett, neugewählter Premier British Columbias, hart durch und ließ 174 Kinder der Duchoborzen zwangsweise in Internate stecken. Nun gab es für den radikalen Flügel der Gemeinschaft, die »Sons of Freedom«, kein Halten mehr: Innerhalb weniger Jahre wurden mehr als tausend Anschläge verübt, auf alles was modern und gegen ihre Überzeugung war. Mähdrescher und Eisenbahnbrücken, Kraftwerke und Gerichtsgebäude wurden gleich reihenweise in die Luft gesprengt. Bei missglückten Anschlägen starben zwei »Freiheitskämpfer«; Unbeteiligte kamen nie zu Schaden.


Tolstoi unter Apfelbäumen

Eine Bronzestatue eines Mannes mit langem Bart, gekleidet in einen Mantel, steht auf einem Sockel im Freien. Im Hintergrund sind Bäume und ein Hügel zu sehen. Der Sockel trägt Inschriften in kyrillischer Schrift. Die Szene vermittelt eine ruhige und würdevolle Atmosphäre.
Das Tolstoi-Denkmal auf dem Museumsgelände (Foto: Martin Pundt)

In den letzten 50 Jahren zerfiel die Gemeinschaft zunehmend durch interne Spannungen und Assimilierung. Bei der Volkszählung 2011 bekannten sich in British Columbia nur noch knapp 2.000 Personen zum Glauben der Duchoborzen. Sie leben nicht mehr in Kommunen, und der letzte Sprengstoffanschlag liegt mehr als 30 Jahre zurück …
Seit 1971 ist das Doukhobor Discovery Centre in Castlegar kulturelles Zentrum und Museum der Duchoborzen und informiert über die Geschichte, aber auch über Küche, Kleidung und Kultur der Religionsgemeinschaft. In einem Schrein wird Verigins zerfetzte Kleidung aufbewahrt, die er bei seiner Todesfahrt trug; im stillen Garten steht ein Tolstoi-Denkmal unter verwilderten Apfelbäumen.
Oberhalb der Brilliant Bridge liegt der Verigin Memorial Park mit den Gräbern zahlreicher Verigins.
Zum Weiterflug sollte man mit leerem Magen am Airport eintreffen: Das Pie In The Sky ist das letzte noch von Duchoborzen geführte Lokal der Stadt, mitten im kleinen Terminal. Die rüstigen Seniorinnen tischen neben Napfkuchen auch Borschtsch auf – und der Apfelkuchen ist wirklich himmlisch.

Ein gemütliches Café namens "Pie in the Sky Coffee Shop Café" ist abgebildet. Im Vordergrund stehen ein Tisch mit zwei Stühlen und ein kleines Schild an einem Holzständer. Hinter dem Tisch befindet sich die Theke des Cafés, wo verschiedene Getränke und Speisen angeboten werden. Ein dekoratives Motorradmodell hängt an der Decke neben einer Zimmerpflanze.
Das letzte von Duchoborzen geführte Lokal der Stadt (Foto: Martin Pundt)


Reisepraktische Infos

Air Canada fliegt täglich mehrfach von Vancouver und Calgary zum West Kootenay Regional Airport in Castlegar. Das Pie In The Sky ist täglich von 7.30 bis 16.30 Uhr geöffnet. Per Mietwagen erreicht man von hier aus das Duchoborzen-Museum (Mai-Sept. tägl. 10-17 Uhr, 10$) und zahlreiche Ziele zwischen Pazifik und Rocky Mountains, z. B. das Mountain-Bike-Dorf Rossland oder das historische Nelson sowie die Geisterstadt Sandon.

Passend dazu