On Tour

Aus dem Leben der Maultasche

Weit über 100.000 Kilometer sind Michael Bussmann und Gabriele Tröger für ihre Reisehandbücher durch die Türkei gefahren. In unserer Kolumnenserie »On Tour« verraten die zwei Autoren, weshalb man bei einer ostanatolischen Bergpiste seinen Kirchenaustritt verflucht und als fahrfähiger Germknödel einige skurrile Anhalter mitnimmt. Ach so, der 912-Seiten-Band zur Türkei liegt in 5. Auflage 2015 vor, erstmals komplett in Farbe.


Unser Auto heißt Maultasche. In ihrem ersten Leben transportierte Maultasche keine begnadeten Reisebuchautoren durchs Taurusgebirge, sondern schlicht und ergreifend Rollläden über die Schwäbische Alb. Daher der Name – tiefgründiger erklären lässt er sich nicht.
Den Mercedes-Vito-Bus kauften wir gebraucht im Jahr 2008 mit 80.000 Kilometern auf dem Buckel, um fortan stressfreier unsere fast alljährlich anstehenden Türkeirecherchen zu bestreiten. Zuvor fuhren wir jahrelang mit einem zwar hübschen, aber doch kränkelnden »Strich-Achter« alle Winkel Anatoliens ab. Dank dieser kultigen »Mittelklasse-Mercedes-Burg« von 1971 hätten wir einen akkurat recherchierten »Daimler-Werkstattführer Türkei« verfassen können, mit allem Drum und Dran. Wir wussten, wo wundersame Hände Autos Gutes tun, in welchen Garagen die lustigsten After-Work-Partys stattfanden, welche Vertragswerkstätten den besten Mittagstisch in ihrer Kantine anboten und welcher Gartenzaunschweißer im Nirgendwo eine gebrochene Lenkstange wieder zusammenflicken konnte. Gibt es dafür irgendwelche Verlage? Gerne melden!


Selber schuld, wenn man in der Türkei bei Rot stoppt!

Das war ein Kleinlaster mit Bremsversagen oder Shit happend im Frühjahr 2013 (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)
Das war ein Kleinlaster mit Bremsversagen oder Shit happend im Frühjahr 2013 (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)

Aus dem Vito-Transporter bastelten wir schnell ein Vito-Wohnmobil, ganz nach dem »Jetzt-helfe-dir-selbst«-Baumarktprinzip, mit einem Sperrholzbett samt Schaumstoffauflage, unter das wir ein paar Plastikkisten für unsere schlauen Ordner mit Leserbriefen, Karten und Artikeln schieben. Den »Luxus«, den wir uns zusätzlich gönnten, war ein Wasserkocher, dem man mittels Zigarettenanzünder den Marsch bläst. Die Türken nennen so etwas Çakmakli kettle, »Wasserkocher mit Feuerzeug«. Unser Morgen-Nescafé auf dem Campingplatz ist uns seither sicher.
Maultasche ist im Gegensatz zu ihrem Vorgänger übrigens eine treue Seele. Sie läuft und läuft und läuft. Wenn ihr nicht jemand in den Popo kracht … Das passierte in den letzten Jahren leider zweimal. Und jedes Mal an einer Schnellstraßenampel. Selber schuld, wenn man in der Türkei bei Rot stoppt!
In die linke Backe crashte ein Blindgänger an einem Sonntagvormittag bei komplett leerer Straße; auch das gibt es in der Türkei. Ein Jahr später erwischte es die rechte: Diesmal ist es ein Kleinlaster mit Bremsversagen. Fazit: viel, viel Ärger.

Wieder um Selbstbewusstsein bemüht nach der Bergpiste in Ostanatolien (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)
Wieder um Selbstbewusstsein bemüht nach der Bergpiste in Ostanatolien (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)

Dass Maultasche im vergangenen Jahr schlapp machte, lag ausnahmsweise an uns selbst. Leser hatten sich im Reiseforum des Michael Müller Verlags über den Tas Yolu (»Steinweg«) ausgetauscht, eine spektakuläre Galerietunnelstrecke hoch über der einsamen ostanatolischen Flusslandschaft des Euphrat. Sie wurde über einen Zeitraum von mehr als 130 Jahren von Hand in den Felsen geschlagen. »Ob Bussmann/Tröger da schon waren?«, fragte einer im Forum. »Nö«, dachten wir zuhause vor unseren Bildschirmen. Mit Schamesröte im Gesicht.


Ich vergaß meinen Kirchenaustritt und betete

Auch ohne Gegenverkehr kann es gefährlich werden … (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)
Auch ohne Gegenverkehr kann es gefährlich werden … (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)

Wir fuhren hin. Entdeckten auf dem Weg Kemaliye, ein zum Anbeißen schönes, historisches Städtchen am Berghang. Und fragten dort nach dem Tas Yolu.
»Was habt ihr denn für ein Auto?«, hieß die Gegenfrage. Und als man die Antwort wusste, kam ein hingeworfenes »Könnte hinhauen.«
Die 9 Kilometer lange Schotterpiste über der Euphratschlucht wurde zur Herausforderung. Michael am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz, einen gefühlten Zentimeter neben und gefühlte 100 Meter unter mir das Bett des Euphrat.
An steilen Passagen drehten die Reifen durch, immer wieder kratzen wir den Boden. Kein Geländer, die Piste nur wenig breiter als Maultasche selbst. Auszusteigen hätte bedeutet, direkt in die Schlucht zu stürzen. Ich vergaß meinen Kirchenaustritt zwei Monate zuvor und betete um eine Stunde ohne Gegenverkehr. Panische Blicke auf den stoischen Kilometeranzeiger: 0,9 km, 1,2 km, 1,6 km …
Irgendwann erreichten wir die ersten sicheren Felstunnel, rumpelten tapfer weiter ohne nach rechts in die Tiefe zu blicken, passierten schließlich den letzten Tunnel. Und sprangen mit schlottrigen Knien erleichtert aus dem Auto.
Im neuen Türkeiführer steht, der Tas Yolu sei eine Strecke für Leute mit »Mumm in den Knochen«. Der Satz stammt von unserer Lektorin. Originaltext war: »nur für Leute mit genügend Arsch in der Hose«.
Am nächsten Tag wurde Maultasche krank. Die ungesunden Geräusche unter unseren Füßen entpuppten sich als nur noch am seidenen Fädchen hängender Auspuff. Die nächste Dorfwerkstatt half weiter. In der Rechnung inbegriffen waren knuspriger Lahmacun und viel Tee aus tulpenförmigen Gläsern.


Viele winkende Kurzsichtige am Straßenrand

Allein auf weiter Spur. Am Van-See mit der Maultasche (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)
Allein auf weiter Spur. Am Van-See mit der Maultasche (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)

Maultasche ist weiß. Sind wir ein paar Wochen in der staubigen Hitze der Südtürkei unterwegs, wirkt ihr Teint eher wie Milchreis mit Zimtpulver. Durchfahren wir wieder einmal einen mit frischem Teer übergossenen Highway, geht das Ganze in Richtung »Germknödel mit Mohnstreuseln«.
Die meisten türkischen Dolmuse, Minibusse in Maultaschen-Größe, haben die gleiche Farbe. Das bringt viele winkende Kurzsichtige am Straßenrand mit sich.
Was hatten wir nicht schon für Passagiere! Einen lederhäutigen Bauern auf der südägäischen Bozburun-Halbinsel mit riesigen Säcken voller frisch geernteten Thymians. Noch Tage später roch Maultasche nach Teeladen. Oder Christophe, einen jungen Schweizer, den wir mitsamt Fahrrad und gebrochenem Anhänger in der elegischen Leere des ostanatolischen Hochlands aufgabelten. Dort, wo über Hunderte von Kilometern nicht mehr kommt als ein paar Lehmdörfer mit aufgestapeltem Kuhdung davor.
Er sei auf dem Weg nach Indien, erzählte er uns, ein Jahr hätte er sich dafür Zeit genommen. Statt Navi hielt er eine laminierte Karte in DIN-A4-Größe in der Hand: ganz links die Schweiz, am rechten Rand Indien.


Maultasche wird 17

Eine Christopheruskette, ein Sonnenuntergang und die Hand eines Maultaschenlenkers (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)
Eine Christopheruskette, ein Sonnenuntergang und die Hand eines Maultaschenlenkers (Foto: Gabriele Tröger, Michael Bussmann)

Im kommenden Jahr feiert Maultasche ihren 17. Sie wird uns wieder nach Anatolien bringen, wird mit uns auf serbischen oder bulgarischen Campingplätzen Bier trinken oder uns auf dem Campingdeck einer griechischen Fähre ein gemütliches Bett bieten. Wir freuen uns darauf. Denn trotz ihres jugendlich pubertierenden Alters mault Maultasche selten. Im Gegensatz zu unserem »Strich-Achter«, der schon einige Midlifekrisen hatte (siehe oben) …
Sollten Sie uns also mit Ihrem »Senhor Sorglos«, »Herbie«, »Schnauferl« oder »Marco Proll« (oder wie immer Ihr Auto heißen mag) irgendwann überholen, machen Sie nur! Wir haben schon so viel mit unserem Vito-Bus erlebt, dass wir uns nicht mehr messen wollen. In anderen Worten: Ein Hoch auf Maultasche, the one and only Reisegefährt durch die Türkei!

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