Reportage

Die lange Nacht des Spinnen-Tanzes

100.000 Besucher kommen für gewöhnlich zu den Rolling Stones oder zu Depeche Mode. Am Stiefelabsatz Italiens ist das anders. Hier feiern 100.000 Enthusiasten ihre Tarantella, eine folkloristische Tradition, die ursprünglich das angebliche Gift der Tarantel aus dem Körper eines Gebissenen treiben sollte. Heute treffen sich die Szene-Gurus dieses Genres in Melpignano, um mit rassigen Rhythmen ihren Zuhörern einzuheizen. Einst auf den Fußball-Trikots von US Lecce angepriesen, ist das berühmte Festival inzwischen zum kulturellen Symbol eines gewachsenen Selbstbewusstseins im südlichsten Süden Italiens geworden. Unser Apulien-Autor Andreas Haller hat mitgefeiert und gleichzeitig für die 6. Auflage 2009 recherchiert.


Die Idee von Sergio Blasi war denkbar einfach: Der von der süditalienischen Tarantella-Musik begeisterte Angestellte wollte einige regional bekannte Interpreten für ein Fest in sein Heimatdorf Melpignano locken, um für mehrere Stunden die Nacht zum Tag zu machen. Das war im Jahr 1998, und aus der ursprünglichen Idee ist mittlerweile ein italienweit bekanntes Großereignis geworden, das inzwischen weit über 100.000 Besucher in die kleine Gemeinde lockt. »La Notte della Taranta« ist heute eine etablierte Festival-Marke und zierte sogar zwischenzeitlich die Trikotbrust des Fußballvereins US Lecce, der nach einem Jahr im Oberhaus wieder in der zweiten Liga Italiens zuhause ist ….


Ursprung und kulturelle Bedeutung der Tarantella

Am Tag des Festivals strömen von allen Seiten die Menschen nach Melpignano. Die Hitze ist gnadenlos, nur wenige Bäume spenden Schatten. Noch ist es am Nachmittag ruhig auf der Piazza vor der malerischen Ruine des ehemaligen Augustinerkonvents. Einige Jugendliche haben sich am Marktstand schon eine der obligatorischen Tambourin-Trommeln erstanden und laufen singend und tanzend durch die Gassen des Dorfes, eine Gruppe Halbwüchsiger aus Bari lungert derweil träge im Schatten eines Olivenbaumes. Verkäufer bauen ihre Stände auf, es gibt natürlich jede Menge Tarantella-Musik auf CD zu kaufen, dazu Wein, Crêpes, Obst und vieles mehr. Am Vorabend, bei der Generalprobe, gehörte das Fest noch den Familien und den alten Menschen aus dem Dorf. Heute Nacht ist es die Jugend, die zusammen feiert – sich selbst natürlich, aber auch die Musik als kulturelles Symbol eines gewachsenen Selbstbewusstseins der Mezzogiorno-Region Italiens.

Melpignano liegt im Herzen der Provinz Salento, dem Stiefelabsatz Italiens, rund 30 Kilometer südlich der Hauptstadt Lecce. Ganz im Süden also, dort, wo die Tarantella ihren Ursprung hat. Die Bauern im Salento behaupten seit jeher, der Biss der Tarantel hätte gewisse regionaltypische Krankheiten zur Folge, die nur durch zwei Mittel geheilt werden könnten: mit Hilfe der beiden Heiligen Petrus und Paulus – und mit einem ekstatischen, von Musik und Gesang begleiteten Ritualtanz, dem Spinnentanz. Die Paulus-Kapelle in Galatina, einer größeren Stadt im Salento, ist nach wie vor zum Patronatsfest Ziel der Pilger, die sich hier die Befreiung von ihren Leiden erbitten. Der heidnisch anmutende, therapeutische Charakter der Tarantella jedoch wird in heutigen Tagen nur noch selten praktiziert. Immerhin verweisen Mediziner darauf, dass Taranteln den Menschen gänzlich ungefährlich seien. Aber solche Haarspaltereien interessieren hier im Salento niemanden: Wie andernorts auch ist aus dem Spinnentanz eine etablierte Folklore-Tradition erwachsen, die von Jahr zu Jahr mehr Anhänger zählt und sich längst von ihren christlich-heidnischen Wurzeln emanzipiert hat. Die Musik ist rassig, die Rhythmen gehen sofort ins Blut und animieren zum Tanzen, und da, wo die Gesänge langsam und schmelzend sind, erreicht die Melodie umgehend das Herz der Menschen.


Die Nacht der Szene-Gurus wird zum multi-ethnischen Festival

Pizzica, so nennt sich die Tarantella-Musik im Salento, und das mitreißende Stück »Pizzicarella« ist mittlerweile eine Art salernitanische Hymne, die jeder kennt, begeistert mitsingt und die nahezu jeder Interpret im Repertoire hat. Alle bekannten Szene-Gurus haben seit 1998 die große Bühne von Melpignano zur Tarantella-Nacht betreten und den Zuhörerinnen und Zuhörern kräftig eingeheizt: Ambrogio Sparagna, Uccio Aloisi oder Pino Zimba, jeder begleitet von bis zu 30 Instrumental-Virtuosen. Im Lauf der Jahre hat die Tarantella-Nacht von Melpignano immer mehr den Charakter eines multi-ethnischen Festivals angenommen. Auch Sängerinnen und Sänger aus anderen Kulturkreisen betreten die Bühne und heizen die Stimmung zusätzlich an. Auch das spiegelt die gegenwärtige Entwicklung der Tarantella-Musik wider, die immer mehr zu einer großen Klammer für diverse global-folkloristische Stile und für kreative Neuinterpretationen der Musiker wird.

Gegen drei Uhr nachts ist Schluss in Melpignano. Es riecht nach Wein und nach Schweiß. Wer kein Quartier im Dorf gefunden hat, begibt sich grüppchenweise auf den Heimweg oder schlägt sich in die Felder, wo irgendwo die Schlafsäcke und die Decken liegen. Sergio Blasi, der Ideengeber und zentrale Organisator des Festivals, ist rechtschaffen müde, aber auch glücklich: Wieder einmal war sein Kulturereignis ein voller Erfolg.


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