Reportage

Gute Zeiten für den Apennin-Wolf

Ein Artikel unserer Autorin Sabine Becht, die in diesen Tagen die Erstauflage ihres Reisehandbuches »Abruzzen« (zusammen mit Sven Talaron) herausbringt.


Der Parco Nazionale d’Abruzzo im Südwesten der gleichnamigen Region zählt zwar nicht zu den größten, sicherlich aber zu den schönsten Nationalparks in ganz Italien. Bunte Wiesen und dichte Buchenwälder, ein dünn besiedeltes Naturparadies, in dem auch Wolf und Bär wieder ein geschütztes Refugium gefunden haben. Unsere Autorin Sabine Becht, die in diesen Tagen die Erstauflage ihres Reisehandbuches »Abruzzen« (zusammen mit Sven Talaron) herausbringt, hat sich im Nationalpark umgesehen.

Eines vorneweg: Einen Bären haben wir nicht gesehen, und auch das mit dem Wolf in freier Wildbahn wäre gelogen – ihn haben wir zwar gesehen, doch hielt sich Art und Weise der Sichtung in wenig spektakulärem Rahmen: Im Gehege lag er in der Sonne, faul und müde, und sicher auch ein wenig gelangweilt von den unzähligen Besuchern, die ihn tagtäglich aus gebührendem Abstand beobachten. Die wenigen Wölfe im Freigehege von Civitella Alfedena haben längst gemerkt, dass ihnen hier keiner zu nahe kommen kann.


Jagd auf Apennin-Wölfe und Marsica-Braunbären

Das war nicht immer so – über die Jahrhunderte wurden der Apennin-Wolf wie auch der hier ebenfalls heimische Marsica-Braunbär erbarmungslos verfolgt. In schlechten Zeiten hatten sich die Bären auf der Suche nach Essbarem immer wieder auch in die Nähe der abgelegenen abruzzesischen Bergdörfer gewagt. Der Wolf, der bei seinen Beutezügen im Rudel auch vor Schafherden im einsamen Bergland nicht halt gemacht hatte, wurde ab Anfang des 19. Jhs. in Mittelitalien vielerorts fast ausgerottet. Hohe »Kopfgelder« gab es einst für jeden erlegten Wolf, der unter der hiesigen Landbevölkerung lange Zeit als das Böse schlechthin galt. Sein Heulen in dunklen Winternächten tat ein Übriges – nichts war in den Bergen der Abruzzen mehr gefürchtet und verhasst als der Apennin-Wolf, der Ende der 1960er Jahre hier fast verschwunden war.
Als Vittorio Emanuele II. das heutige Kerngebiet des Abruzzen-Nationalparks im Jahr 1872 zum königlichen Jagdrevier erklärte, erwies sich dies erstmal als Segen für die Tierwelt: Selbst der bekannt schießwütige erste König des frisch geeinten Italiens schaffte es nicht, die Wildbestände auf ein gefährdetes Maß zu reduzieren. Wenn sie nicht gerade zufällig vor die königliche Flinte liefen, konnten sich hier Rehe, Hirsche und Gämsen relativ unbehelligt ausbreiten. Für eine Gesundhaltung der Populationen sorgte der Wolf, der alte, kranke und schwache Tiere riss. 1922/1923 wurde hier einer der ältesten Nationalparks Italiens gegründet, ursprünglich aus nur 18.000 Hektar Fläche bestehend (zum Vergleich: der 1995 gegründete Gran Sasso-Nationalpark umfasst 149.000 Hektar). Heute sind es 44.000 Hektar streng geschützter Naturraum, der sich zu einem geringen Teil auch auf die Nachbarregionen Latium und Molise erstreckt.


Image-Wandel für den Wolf

Die Jagd auf den Wolf indes ging weiter, und in den 1960er-Jahren kam eine neue Bedrohung für die gesamte Fauna des Parks hinzu: das Wirtschaftswunder und die damit verbundene, möglichst rasche touristische Erschließung des Gebietes. Man baute Straßen, Ferienanlagen und Skipisten, insgesamt wurden rund 120.000 Buchen gefällt. Etwa 3000 Hektar Naturraum waren zerstört, die Populationen zahlreicher Arten gingen dramatisch zurück. Die Wende brachten erst die frühen 1970er-Jahre: Dank zahlreicher Maßnahmen und Verordnungen kehrte man zum ursprünglichen Ziel, dem Naturschutz, zurück. In Zusammenarbeit mit dem Nationalpark und dem WWF wurde 1971 die »Operazione San Francesco« ins Leben gerufen, mit deren Schutzmaßnahmen sich die Wolfspopulation von italienweit nur noch knapp 100 Tieren auf heute ca. 400 bis 500 erholt hat, etwa 50 davon sind im Abruzzen-Nationalpark zuhause. Die systematische Erforschung von Lebensraum und -gewohnheiten gehörte dabei ebenso zu den Schwerpunkten wie die Aufklärungsarbeit an den Schulen – kaum ein abruzzesisches Schulkind würde heute noch die Legenden vom bösen Wolf glauben, die für die Großeltern noch zum ganz alltäglichen Horror gehörten. Besonders anschaulich wird dieser Wandel beim Besuch des kleinen »Museo del Lupo« gleich neben dem Gehege in Civitella Alfedena, wo eine sorgfältig aufbereitete Ausstellung über den Wolf informiert.


Eine einmalige Naturlandschaft lockt jährlich fast eine Million Besucher

Wer heute in den Parco Nazionale d’Abruzzo, Lazio e Molise (so der vollständige Name) fährt, findet eine intakte Natur vor. Rehe, Hirsche und die nur in diesem Gebiet vorkommende Abruzzengämse fühlen sich hier ebenso wohl wie die äußerst scheue Wildkatze und der Luchs, der sich in die dichten Wälder der unzugänglichsten Ecken des Parkes zurückgezogen hat. Ihn wird man kaum zu Gesicht bekommen, ebensowenig die Wildkatze, und wer einen der geschätzen 50 Bären des Nationalparks zumindest mal aus der Ferne begutachten möchte, muss sich auf einen mehrstündigen Fußmarsch in einer organisierten Wandergruppe der Parkverwaltung gefasst machen. Nur den Wolf kann man ab und zu – besonders abends und nachts – wenigstens mal hören. Wer ihm persönlich begegnen möchte, dem bleibt das Freigehege in Civitella Alfedena, dem sicherlich schönsten Dorf im ganzen Park inmitten einer überwältigenden Naturlandschaft. Letztere ist der eigentliche Grund, warum man hier jährlich fast eine Million Besucher zählt, die zuhause in der Stadt nicht nur von eindrucksvollen Wanderungen in einsamer Natur, sondern manchmal auch vom Heulen der Wölfe erzählen können.

Passend dazu