»Buddenbrooks« und »Der Zauberberg« go home! Das eigentliche Meisterwerk des genialen Weltschriftstellers Thomas Mann ist »Der Tod in Venedig«. 2012 jährt sich die Novelle um den Schriftsteller Gustav von Aschenbach, der sich in den Knaben Tadzio verliebt und an der indischen Cholera zugrunde geht, zum 100. Mal. Klaro, dass das Buddenbrookhaus da eine Sonderausstellung bringen muss – unser Lübeck-Autor Matthias Kröner ist dort gewesen.
Ich erklimme den höchsten Punkt der Altstadt und betrachte das Fassaden- und Häusermeer. Dort, neben der imposanten Marienkirche, ragt ein weißes Prunkgebäude hervor: das Buddenbrookhaus. Was nicht jeder weiß: Thomas Mann hat in diesem Upperclassbau nie gelebt, er gehörte seinen Großeltern. Was die meisten wissen: Viele Szenen seines Nobelpreisromans »Buddenbrooks. Verfall einer Familie« spielen hier. Es gibt sogar ein Foto, auf dem Thomas Mann mit seiner Frau Katia am 10. Juni 1953 vor der Fassade des kriegszerstörten Barockhauses steht – zwei Jahre vor seinem Tod hat sich der zum Ehrenbürger Ernannte mit Lübeck ausgesöhnt. Ein Teil der Altstadt lag damals noch in Schutt und Asche, darunter auch das Buddenbrookhaus.
Ich denke darüber nach, warum die alten Manns ausgerechnet diesen Ort zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben. Die Antwort ist ziemlich einfach: Wer im 19. Jahrhundert (und früher) was auf sich hielt, wohnte neben einer Kirche – und damit näher am Höchsten selbst. Und die Manns hielten einiges auf sich …
Während ich das historisch aufgeladene Bauwerk betrete, ermahne ich mich wegen dieser Abschweifung. Heute darf ich mich nicht zu sehr in familienhistorische Hintergründe verstricken. Es geht darum, eine Sonderausstellung zu besuchen, herauszufinden, ob sich ein Besuch in »Wollust des Untergangs. 100 Jahre Thomas Manns ›Der Tod in Venedig‹« wirklich lohnt. Nur eines noch vorneweg: Der Besuch des Buddenbrookhauses selbst, seines Zeichens das beliebteste Literaturmuseum der Republik, lohnt sich immer. Die sich auf zwei Stockwerken abspielende Dauerausstellung ist differenziert und detailliert: Nur die Homophilie des Helden, zu Deutsch: sein Schwulsein, wird lieber weggeschwiegen – oder eben nur zwischen den Zeilen erwähnt; Lübeck halt.
Der Autor und seine Figur: eine Zwangsehe
Die Meeresprojektion auf dem Fußboden, das Schwappen der Wellen, wirkt gekonnt. Es ist der richtige Einstieg in ein Thema, das wabert und sich nicht fassen lässt. Denn im »Tod in Venedig« geht es um Knabenliebe, Pädophilie, die – zum Glück – nicht ausgelebt wurde, weder vom fiktiven (Gustav von Aschenbach) noch vom realen Autor (Thomas Mann). Doch wie immer bei Thomas Mann ähneln sich Werk und Wirklichkeit: Auch der Wahl-Münchner war in Venedig, auch er hatte sich in einen Knaben verliebt, auch ihm ging es um Leistungsethik zur Überwindung von (Lebens-)Lust.
Zu Beginn der zweiten Station heißt es: »Als er [gemeint ist Aschenbach] um sein fünfunddreißigstes Jahr in Wien erkrankte, äußerte ein feiner Beobachter über ihn in Gesellschaft: ›Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so gelebt‹ – und der Sprecher schloß die Finger seiner Linken fest zur Faust -; ›niemals so‹ – er ließ die geöffnete Hand bequem von der Lehne des Sessels hängen.« Die Arbeitsnotizen und Originalbriefe in Schaukästen bestätigen diese Ansicht auch für den Autor selbst: Schon 1901 (also elf Jahre vor der Drucklegung der Novelle) hatte Thomas Mann an Otto Grautoff geschrieben, dass sich ihm »[b]isweilen […] vor Ehrgeiz der Magen« umkehre.
Solche bösen und klug gewählten Zitate führen durch die Ausstellung, was unbedingt Lust auf die knapp 100-seitige Novelle macht, doch gleichzeitig nicht über eine Sache hinwegtäuscht: Richtig genießen kann man diese Werkschau nur, wenn man den »Tod in Venedig« schon kennt. Auch der durchweg gut betextete Audioguide (der gerade mal 1 Euro mehr kostet) kann diese etwaige Lücke nicht völlig schließen.
Eine Führung und zwei Gehirnhälften
Davon abgesehen, erfahre ich einiges, was ich noch nicht wusste: So fand die erste Übersetzung des sehr populären und inzwischen in über 40 Sprachen übertragenen venezianischen Dahinscheidens auf Dänisch statt, die bislang letzte 2005 auf Isländisch. Als ich mich im Übergang von der zweiten zur dritten Station befinde (sehr schön, die Stationen sind nach den fünf Kapiteln angelegt!), betritt eine lautstarke Führung den kleinen Raum. Ich kann gerade noch aufnotieren, dass der in seiner Heimat verhasste Weltschriftsteller die Lagunenstadt als ein »ins Orientalisch-Phantastische übersetztes Lübeck« sah (An Paul Amman, 1916): ein Zitat, das vielleicht in die nächste Lübeck-Auflage (2013) reinkommt! Fortan beschäftigen sich ein Ohr und eine Gehirnhälfte mit den Erklärungen des Museumsguides. Zwei Augen und Gehirnhälfte Numero zwei schweifen durch die anderen Stationen, vorbei an Fotofahnen, die den Dichter und das alte Venedig zeigen; auf einer sieht man sogar einen halben, wissenschaftlich nummerierten Totenschädel … Ich lese, dass der vom elitären Bürgertum faszinierte Workaholic von seinem 20. bis 23. Lebensjahr zwei Jahre in Italien verbracht hat (weiß ich, damals schrieb er die »Buddenbrooks«); was mir neu ist: Im Laufe seines Lebens zog es ihn mehr als 20-mal nach Italien, 8-mal davon nach Venedig; als 21-Jähriger war er zum ersten Mal in der Stadt am Lido.
Untergang und Fazit
Besonders beeindruckend ist dann noch die letzte Station (»Untergang«): ein kleiner, mit schwarzen Tüchern verhängter Nebenraum, auf dessen hintere Wand das Heranrollen des Meeres projiziert wird. Das Arrangement spielt den Schluss der Novelle nach – und zwar aus Sicht des scheidenden von Aschenbach, der längst seine Würde verloren hat. Sogar der »photographische […] Apparat, scheinbar herrenlos«, der »auf seinem dreibeinigen Stativ am Rande der See [stand]«, ist zu sehen. Und der Audioguide erzählt von einer möglichen homosexuellen Interpretation dieses Satzes, der auf einen damals bekannten Fotokünstler anspielen könnte, der Männerakte fotografisch festhielt – interessant!
Im Hinausgehen blicke ich noch in zwei Venedig-Reiseführer von 1908 bis 1910 (»Greuters« und »Woerl’s«) und erfahre einiges über die mehr als schwierige Entstehung des Jahrhunderttextes, der den Bestsellerautor »bis zur Qual beschäftigt« hatte (Brief an Wilhelm Herzog, 1911): so lange, bis die »unmögliche Novelle« (Brief an Hans von Hülsen, 1911) nach einem Jahr endlich in eine Form gekommen war, mit der sogar der überkritische Genieschreiber leben konnte.
Noch berauscht von so viel literarischem Heroentum hole ich meinen Rucksack und meine Jacke aus einem Schließfach. Ich schaue mich im gut sortierten Buchshop vor der Kasse um und frage die Frau an der Rezeption, weshalb eigentlich mein Reiseführer dort nicht verkauft wird. Sie kenne das Buch, meint sie freundlich, viele kämen damit herein, doch »es passe so manchen in Lübeck nicht«. Ob das damit zusammenhänge, frage ich, dass ich darin auch kritisch bin und nicht jedes Museum in den Himmel lobe.
Sie nickt. »Das ist ja wie zu Zeiten von Thomas Mann!« entfährt es mir.
Für Sekunden fühle ich mich wie der Meister selbst – ein lustiger Abschluss einer starken Ausstellung.
Weiterführende Informationen:
Buddenbrookhaus, Mengstraße 4, April-Dez. 10-18 Uhr, Eintritt 6 €, erm. 3 €, Kinder (6-18 J.) 2,50 €, www.buddenbrookhaus.de. Die Sonderausstellung »Wollust des Untergangs. 100 Jahre Thomas Manns ›Der Tod in Venedig‹« läuft noch bis 28. Mai. Doch auch die folgende Sonderausstellung zu TMs Lieblingskind »Medi« hört sich ziemlich spannend an: »Elisabeth Mann Borgese und das Drama der Meere«. Das jüngste seiner sechs Kinder war eine anerkannte Meeresbiologin – und litt als einzige nicht unter der komplexen und selbstmordgefährdeten Familienstruktur der Manns.
Ach so, am 20. Mai (ein Sonntag!) ist internationaler Museumstag. Was heißt das? Man kommt in alle Ausstellungen der Stadt für lau.