Lesezeit: 1 minReportage

Abseits der ausgetretenen Pfade:
Der unbekannte Osten von Paris

Ralf Nestmeyer legt nicht nur die 6. Auflage seines »Paris MM-City« vor, sondern hat auch ein Plädoyer für die unbekannten Ecken der französischen Hauptstadt geschrieben. Fernab von Touritrubel und Highlighthopping findet man im unbekannten Osten das echte Paris, den charmanten Alltag einer Metropole, den übrigens auch zahlreiche Künstler und Kunstfiguren, u. a. Kommissar Maigret von Georges Simenon, zu schätzen wissen. Und wer nicht nur im Zentrum einkaufen mag, ist hier ebenfalls richtig.

Porträt eines Mannes in Schwarzweiß. Er hat einen glatzköpfigen Kopf und trägt ein dunkles T-Shirt. Sein Gesichtsausdruck wirkt nachdenklich, er blickt direkt in die Kamera. Das Bild ist schlicht gehalten mit einem Fokus auf das Gesicht des Mannes.


Im Gegensatz zum Montmartre und dem Quartier Latin gehört die Gegend um den Canal de Saint Martin und die Place de la République bis heute zu den weißen Flecken auf der touristischen Landkarte. Von den meisten Reisenden achtlos links liegen gelassen, findet sich hier im Osten der Stadt ein authentisches Paris, weit entfernt von den Glitzerwelten der Boulevards und den Treffpunkten der Bohème. Es ist ein Paris der kleinen Leute mit provinziellem Charme, das lange zwischen Stillstand, Armut und Verfall changierte.


Ländliche Idylle in hektischer Metropole

Eine U-Bahnstation mit einer langen Rolltreppe, die in die Tiefe führt. Menschen steigen die Rolltreppe hinauf oder hinunter. Im Hintergrund sind Bäume und Gebäude zu sehen, was auf eine urbane Umgebung hindeutet. Das Bild vermittelt einen Eindruck von Bewegung und dem Alltag im Stadtverkehr.
Der Kanal, in dem Kommissar Maigret Leichen findet

Wer einen Blick auf den Stadtplan wirft, erkennt in den blauen Wasserlinien des Canal Saint Martin die Lebensader des Viertels. Mit seinen alten Schleusen und eisernen Fußgängerstegen wirkt der von hohen Bäumen gesäumte Kanal, den Alfred Sisley gemalt und in dem Kommissar Maigret schon so manche Leiche gefunden hat, wie eine ländliche Idylle in der hektischen Metropole. Gebaut, um die Wasserversorgung der Hauptstadt zu verbessern, wurde der Kanal in den letzten Jahren für mehrere Millionen Euro restauriert, wovon auch die Ausflugsboote profitieren, die auf der schmalen Wasserstraße entlang schippern. Im Schatten der Platanen kann man auf der Uferbefestigung herrlich picknicken oder ein Buch lesen, vielleicht Eugène Dabits Roman »Hôtel du Nord«, der 1938 durch Marcel Carnés gleichnamigen Klassiker in die Filmgeschichte eingegangen ist. Jean Gabin und die legendäre Arletty (»Atmosphäre? Atmosphäre? Sehe ich nach Atmosphäre aus?«) weilen zwar nicht mehr unter den Lebenden und auch von dem an der sechsten Schleuse des Canal Saint Martin gelegenen Hotels steht nur noch die Fassade, doch das gleichnamige Restaurant erfreut sich nicht nur unter Nostalgikern einer großen Beliebtheit.


Ein Platz für die Aufständischen und ein Szeneviertel

Ein Blick in ein belebtes Restaurant mit roten Sitzbänken und Tischen. Im Hintergrund ist eine Dekoration mit Lampen und Spiegeln zu sehen. Einige Gäste sitzen bereits am Tisch und warten auf ihre Bestellung. Die Atmosphäre wirkt gemütlich und einladend.
Café Chabron, Szenetreff mit viel Patina

Schon immer herrschte im Pariser Osten ein rauheres Klima als in anderen Teilen der Stadt; die Bevölkerung war sensibilisiert für politische Umschwünge und jederzeit bereit, einen Aufstand zu wagen. Da Baron Haussmann die riesige Place de la République so gestaltete, dass man sie auch als Exerzierplatz nutzten konnte, versammelten sich hier 1871 folgerichtig (wenn auch nicht von staatlicher Seite erwünscht) während der Pariser Kommune die Aufständischen und errichteten ihre berühmten Barrikaden. Diese Tradition wird auf friedliche Weise fortgesetzt: Heute ist die Place de la République ein beliebter Ausgangspunkt für Demonstrationen jeglicher Couleur.
Der nördliche Rand des 11. Arrondissements ist hingegen zu einem Szeneviertel geworden. Dort, wo einst kleine Schuhfabriken und Hinterhofmanufakturen existierten, Kunstschreiner und Vergolder vor sich hin werkelten, findet man heute Werbeagenturen und Architekturbüros, die sich nahtlos in die Sozialstruktur eingegliedert haben und auch im kleinen Rahmen engagieren. So hat beispielsweise der Pariser Stararchitekt Jean Nouvel, der sein Büro in einer der typischen Sackgassen unterhält, unlängst das Café Place Vert in der Rue Oberkampf »aufgepeppt«. Zwei Häuser weiter findet sich in einer ehemaligen Kohlenhandlung das Café Charbon, das viel Patina besitzt und seit Jahrzehnten als Wohnzimmer der Szene gilt. Der seltsame Name der Rue Oberkampf erinnert aber nicht etwa an eine Schlacht, sondern geht auf den französischen Tuchfabrikanten und Philanthropen Christophe-Philippe Oberkampf (1738-1815) zurück, der aus dem süddeutschen Wiesenbach stammte. Oberkampf betrieb die erste Baumwollspinnerei Frankreichs. Er beschäftigte zeitweise bis zu 2.000 Arbeiter.


Für Freunde des gepflegten (Schuh)Shopping

Shoppinglustigen sei die bei der Place de la République gelegene Rue Meslay empfohlen, deren rund 60 Schuhgeschäfte ein Dorado für Schuhliebhaberinnen sind. Ein Stück weiter westlich stößt man am nördlichen Rand des Marais auf den überdachten Marché des Enfants Rouges. Der älteste noch existierende Lebensmittelmarkt von Paris lockt mit Wein, Blumen, Käse sowie zahlreichen Imbissmöglichkeiten, von der klassischen Rôtisserie bis zum japanischen Restaurant Chez Taeko. Und zu den Boutiquen und Galerien im jüdischen Marais ist es von hier auch nur noch ein Katzensprung.

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