Reportage

Eine Anlaufstelle für Austeiger und Weltverbesserer
oder Die Alternativen von Ascona

Ein Artikel von Hans-Peter Koch, dem Autor unseres neu überarbeiteten und soeben erschienenen Tessin-Guides (zusammen mit Margrit Zepf).


Freie Liebe und Esoterik-Rummel, Prominenten-Auftrieb, Hippie-Kultur und alternative Lebensformen – alles schon mal da gewesen im Tessin. Die 100jährige Geschichte vom Monte Verità ist eine Geschichte zerplatzter Träume und modernen Tourismus-Marketings. Ein Artikel von Hans-Peter Koch, dem Autor unseres neu überarbeiteten und soeben erschienenen Tessin-Guides (zusammen mit Margrit Zepf).

»Wir sonnen den Leib, ja wir sonnen den Leib, das ist unser einziger Zeitvertreib. Doch manchmal paddeln wir auch im Teich, das kräftigt den Körper und wäscht ihn zugleich«. Was Erich Mühsam, der deutsche Dichter und Revolutionär aus der Zeit der Räte-Republik, in seinem »alkoholfreien Trinklied« verspottete, war dem belgischen Fabrikantensohn Henri Oedenkoven und der Münchener Pianistin Ida Hoffmann vor 100 Jahren bitterernste Lebensphilosophie. Im Herbst 1900 kaufte das Paar für 150.000 Franken den Monte Monescia oberhalb Asconas, taufte ihn um in Monte Verità (»Berg der Wahrheit«) und gründete eine »vegetabile Cooperative«, die schon bald zur Anlaufstelle für Aussteiger und Weltverbesserer aus aller Welt wurde. Man baute Licht- und Lufthütten, gab den Häusern beziehungsreiche Namen (z.B. »Casa Anatta« = »Seele« im Sanskrit), pflanzte eigenes Gemüse an, aß selbstverständlich vegetarisch, tanzte nackt durch die Gärten und lebte fröhlich alternativ.

Wer damals als Querdenker galt, gesellte sich dazu: Die Dichter Hermann Hesse und Else Lasker-Schüler, August Bebel und Hans Arp, die Tänzerin Isadora Duncan und der später weltberühmte Psychologe C. G. Jung – sie alle waren mehr oder weniger aktive Gäste auf dem Monte Verità. Doch soviel individualistische Kreativität verträgt sich nicht gern und auch die Zeiten ändern sich – 20 Jahre später war der alternative Schwung dahin; Henri und Ida hatten sich getrennt, die prominenten Gäste verspotteten die frühe Hippie-Kommune und die Einheimischen rümpften die Nase über »das Lotterleben der Vegetarini auf dem Berg«. Oedenkoven verkaufte den Monte Verità und zog enttäuscht nach Brasilien, wo sich seine Spur verliert.

Der neue Besitzer, der holländische Baron van der Heydt, der vormals als Finanzier der deutschen Kriegsmaschinerie im 1. Weltkrieg bekannt war und sich später reichlich erfolglos als Hotelier auf dem Monte Verità versucht hatte, vermachte die Anlage 1964 dem Kanton Tessin und wünschte sich eine »ausstrahlende Kulturstätte«. Ein frommer Wunsch, denn der Berg ist heute geschäftige Seminarstätte der Universitäten von Luzern und Zürich; alternativ blieben allein das Museum, das nur einer Initiative des deutschen Museumsmachers Harald Szeemann zu verdanken ist, und die viel zu teure vegetarische Gaststätte.

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