Nachhaltig unterwegs

Teil 5: Slowakei
Im kleinsten Hochgebirge der Welt

Soeben ist er in 6. Auflage 2023 erschienen – der Slowakei-Reiseführer von André Micklitza! Obgleich der Reisejournalist eine 400-seitige Liebeserklärung an das ganze Land geschrieben hat, entführt uns Micklitza in diesem Newsletterartikel in die Hohe Tatra. In vier Tagen geht es durch das kleinste Hochgebirge der Welt, auf der Suche nach Naturphänomenen, Gipfeleindrücken, Berghütten und – Bären. Dabei erfahren wir, weshalb die meisten Höhenwege nur vier Monate lang begehbar sind, was getan werden muss, um in einer bestimmten Berghütte einen heißen Tee gratis zu bekommen und wo es das beste Pils der Slowakei gibt.

Plötzlich und unerwartet wachsen die Berge aus der Ebene. Die Hohe Tatra wurde schon immer mit Superlativen bedacht. Im riesigen Raum zwischen den Alpen und dem Ural ist sie die einzige Berggruppe mit durchweg alpinem Charakter. Und sie ist wahrhaftig klein: Von Ost nach West misst sie knapp 30, von Nord nach Süd weniger als 20 Kilometer.

Die weißen Kalksteinwände im Fast-Totalreservat

Für die Anreise in die Slowakei haben wir umweltbewusst und stressfrei die Bahn bevorzugt. Ab Prag erreicht man das Ziel über Nacht im Liege- oder Schlafwagen. Was kann herrlicher sein, als sich früh die Augen zu reiben, die Gardinen beiseitezuziehen und die ersehnten Bergspitzen zu erblicken?
Die Mehrtagestour auf der Hauptkamm-Route startet am Südfuß der Weißen Tatra (Belianske Tatry) – am Dorf Tatranská Kotlina. Die zerklüfteten Berge rücken Schritt für Schritt in greifbare Nähe. Den ganzen Vormittag sieht man die Kalksteinwände der Weißen Tatra. Die natürliche Abtragung von Gestein und Boden sorgt für eine fruchtbare Lehmoberfläche, auf der eine artenreiche Pflanzenwelt gedeiht.
Schon 1978 wurde dieser Teil des Nationalparks (die gesamte Hohe Tatra ist Biosphärenreservat der UNESCO) zum Fast-Totalreservat erklärt. Diese Maßnahme hatte die Sperrung beinah aller früheren Wanderwege zur Folge. Der Grund: Ein grenzenloser Massentourismus hatte enorme Schäden angerichtet. Viele Höhenwege sind daher im gesamten Nationalpark nur eingeschränkt von Anfang Juli bis Ende Oktober geöffnet. Die hier beschriebene Hauptmagistrale ist aber ganzjährig zu begehen.

Die Tatra-Wanderpfade sind vorbildlich ausgeschildert
Die Tatra-Wanderpfade sind vorbildlich ausgeschildert (Foto: André Micklitza)

Regen, Nebel, Sturmböen

Am späten Nachmittag kommt die Grünseehütte (Chata pri Zelenom plese) ins Blickfeld. Wir schauen auf den namensgebenen See und auf das umgebende prächtige Gebirgspanorama. In der warmen Stube sitzen Kletterer und Wanderer. Auf vielen Tischen liegen ausgebreitete Karten, oder das Smartphone wird zur Vorbereitung für den nächsten Morgen „befragt“.
Beim Aufstieg zum Ratzenbergjoch (Sedlo pod Svišťovkou) zeigt sich ein extremes Wechselspiel der Naturgewalten: Regen, Nebel, Sturmböen. Nur für Augenblicke sind die Bergspitzen zu erkennen. Dann, wenn sich der „Vorhang“ kurz beiseiteschiebt … Nach drei Stunden Kraxelei ist die Seilbahnstation am Steinbachsee (Skalnaté pleso) erreicht, Gelegenheit zum Verschnaufen am Imbiss.
Ganz von den Problemen dieser Welt entfernt, umgeben von einem Kranz scheinbar unzugänglicher Gipfel, steht die Räuberhütte (Zbojnická chata). Wieder und wieder hatte sich der Pfad um Felsecken geschlängelt, doch erst wenige Minuten vor dem Ziel wird die Hütte sichtbar. Von hier führt ein anspruchsvoller Touristenweg über den Bergpass (Prielom hreben) zum Hotel Schlesierhaus (Slieszky dom).

Auf dem Weg zur Räuberhütte
Auf dem Weg zur Räuberhütte (Foto: André Micklitza)

Schöne Flora und slowakisches Pils

Tags darauf erfreuen wir uns an der schönen Flora. Obwohl es noch Anfang August ist, blühen hier oben bereits der Schwalbenwurz-Enzian und die zarte kleine Alpentroddelblume. Nach einem langen Abstieg beziehen wir Quartier in der Berghütte am Poppersee (Popradské pleso). Nachdem die zahlreichen Tagsesausflügler wieder abgestiegen sind, haben wir das fantastisch gelegene Haus ab dem späten Nachmittag fast für uns allein.
Kein sportlicher Ehrgeiz plagt am Abend das Gewissen! Die Bergwelt beeindruckt auch aus der Perspektive einer Bank am Seeufer. Als es kühl wird, sind wir mit wenigen Schritten in der Gaststube. Dorthin lockt der „Goldene Fasan“ (Zlatý bažant), das beste slowakische Pils.

Die Bergkulisse oberhalb des Poppersees
Die Bergkulisse oberhalb des Poppersees (Foto: André Micklitza)

Der höchste Berg Polens

Die Berghütte am Poppersee gehört zu den vielbesuchten im Nationalpark. Einerseits führt der Hauptwanderweg, die Tatra-Magistrale, am Seeufer entlang, andererseits dauert der Aufstieg vom Haltepunkt der umweltfreundlichen Tatrabahn oder vom Touristenort Štrbské Pleso nur reichlich eine Stunde.
Auch der Aufstieg zum fast 2.500 Meter hohen Rysy ist nah. Auf seinem kleinen Plateau verläuft in der Mitte die slowakisch-polnische Staatsgrenze. Der Rysy ist der höchste Berg Polens und der gewaltigste Tatragipfel, der noch ohne Bergführer individuell bezwungen werden darf.
Ein Stück unterhalb duckt sich die einfache Berghütte Chata pod Rysmi. Am Anfang des Aufstiegs, nahe am Poppersee, befindet sich ein Unterstand mit Holzklafter, Kohlenbündel und Krimskrams, dazu ein Schild „Wer etwas hinaufträgt, bekommt oben einen warmen Tee gratis“.

Wer was trägt, kriegt warmen Tee ...
Wer was trägt, kriegt warmen Tee ... (Foto: André Micklitza)

Eine Losung, doch kein Bär

In  Štrbské Pleso endet die 4-Tage-Tour – einen Bären haben wir nicht zu Gesicht bekommen, obwohl etwa hundert durch den Nationalpark streifen … Am ersten Tag waren uns aber seine Hinterlassenschaften aufgefallen: Bärentatzenabdrücke neben einer Pfütze und später auch große blaugefärbte Losungen (so heißen die biologischen Überreste der Nahrungsaufnahme im Fachjargon).
Ach ja, wer das außergewöhnliche Glück hat, Meister Petz leibhaftig über den Weg zu laufen, der sollte nicht rennen! Ein Bär ist immer schneller. Besser ist es dann, laut zu singen …

Ungefährliche Begegnung mit einem Tatrabären
Ungefährliche Begegnung mit einem Tatrabären (Foto: André Micklitza)

Passend dazu