Wussten Sie, dass ...?

Teil 46: Provence & Côte d’Azur
oder Die Erfindung von Cannes

In den Reportagen erzählen unsere Autorinnen und Autoren von unbekannten Ereignissen und skurrilen Gegebenheiten, die auch immer in den Reisebüchern eine wichtige Rolle spielen. Wussten Sie zum Beispiel, dass Cannes im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein unbedeutender Küstenort war? Wieso wachsen dort heute Palmen? Und was genau hatte ein britischer Lordkanzler damit zu tun? Ralf Nestmeyer, dessen Reiseführer zur Haute-Provence gerade frisch erschienen ist, kennt die Antworten.

Im Frühjahr 2022 herrscht auf der Croisette in Cannes wieder normales Treiben. Paare gehen händchenhaltend spazieren, die ersten Sonnenanbeter haben ihre Matten auf dem Strand ausgebreitet, und die Restaurantbesitzer freuen sich über zahlreiche Gäste. Vergessen sind die Monate, in denen aufgrund der Corona-Pandemie alle Hotels und Geschäfte geschlossen waren und sich Cannes in eine Geisterstadt verwandelt hatte. Selbst die stets im Mai stattfindenden und längst legendären Filmfestspiele wurden 2020 zum dritten Mal in ihrer Geschichte abgesagt, im Jahr 2021 auf den Juli verschoben, und alle fiebern der diesjährigen Eröffnung am 17. Juli entgegen. Weitgehend unbekannt ist hingegen, dass die Stadt der Filmfestspiele ihren Aufstieg vom unbedeutenden Küstenort zur Tourismusmetropole hauptsächlich einer Pandemie zu verdanken hat.  

Ohne einen britischen Lordkanzler wäre es wohl heute nicht so mondän im einst unspektakulären Küstenort (Foto: Ralf Nestmeyer)
Ohne einen britischen Lordkanzler wäre es wohl heute nicht so mondän im einst unspektakulären Küstenort (Foto: Ralf Nestmeyer)

Der Lordkanzler im Postkutschenhotel

Als der ehemalige britische Lordkanzler Henry Brougham 1834 mit seiner kränkelnden Tochter Eleonore den Winter im damals noch zu Italien gehörenden Nizza verbringen wollte, wütete gerade die Cholera in Südfrankreich. Die sardischen Behörden hatten die Grenzen abgeriegelt, weshalb ihm die Einreise verweigert wurde. Brougham and Vaux – so sein vollständiger Name – durfte den Grenzfluss Var nicht überqueren und musste in der Provence bleiben, um die über Südfrankreich verhängte Quarantäne abzuwarten. Nachdem die Hotels in Antibes seinen Ansprüchen nicht genügten, entdeckte Brougham ein geeignetes Ausweichquartier im benachbarten Cannes, einem damals vollkommen unspektakulären Küstenort, der statt eines Hafens nur über einen offenen ungeschützten Ankerplatz verfügte. Brougham quartierte sich mit seiner Familie im Hôtel de la Poste aux Chevaux ein, einer Postkutschenstation, die sich genau an jener Stelle befand, an der heute das Hôtel Méditerranée steht. Schnell verliebte sich der ehemalige Lordkanzler in den anmutigen Ort, sodass er sogar den Plan verwarf, zu einem späteren Zeitpunkt nach Nizza weiterzureisen.  

Lord Brougham, der Mann, der Cannes erfand (Foto: Ralf Nestmeyer)
Lord Brougham, der Mann, der Cannes erfand (Foto: Ralf Nestmeyer)

Das Quartier Anglais und die Vervierfachung der Einwohnerzahl

Brougham ließ sich am westlichen Rand von Cannes an der heutigen Avenue du Docteur-Picaud eine – heute nicht mehr existierende – Villa mit neugotischen wie auch neoklassizistischen Stilelementen errichten, die er »Château Eléonore-Louise« nannte. In dem schmucken Anwesen samt zinnengekrönten Aussichtstürmchen verbrachte er fortan die Wintermonate bis zum Ende seines Lebens. Selbstverständlich durfte im Park der Villa ein typischer englischer Rasen nicht fehlen. Die Einheimischen staunten, denn eine Rasenfläche mit diesen Ausmaßen hatte man an der französischen Riviera noch nie gesehen.Dank Lord Broughams Fürsprache stieg Cannes bald zu einem der exklusivsten Orte an der Côte d’Azur auf. Zahlreiche englische Aristokraten folgten seinem Beispiel und wandten Nizza den Rücken zu. Das Quartier Anglais entstand. Auch beim französischen König machte Brougham seinen Einfluss geltend: Louis-Philippe ließ sich erweichen, den Bau eines Hafenbeckens zu finanzieren. Zudem erhielt Cannes schon bald einen Eisenbahnanschluss. Eine erste Segelregatta fand statt, und die Einwohnerzahl vervierfachte sich innerhalb weniger Jahrzehnte.  

Einst ließ sich Brougham in einem Postkutschenhotel nieder. Heute gibt es sogar das Carlton in Cannes (Foto: Ralf Nestmeyer)
Einst ließ sich Brougham in einem Postkutschenhotel nieder. Heute gibt es sogar das Carlton in Cannes (Foto: Ralf Nestmeyer)

Exotische Flora

Diese aufstrebende Entwicklung ging einher mit der Transformation der Landschaft. Bereits 1842 wurden die ersten Palmen am Meeresufer gepflanzt, exotische Flora verdrängte die lokale Vegetation. 1853 wurde der Bürgermeister von Cannes erstmals beim Staat mit der Idee vorstellig, die Sanddünen abzutragen und eine Promenade direkt am Meer zu errichten. Der Plan wurde abgesegnet, und ein paar Jahre später flanierten die ersten »Hivernats« genannten Überwinterer auf der weltberühmten Croisette.Nachdem Lord Brougham am 7. Mai 1868 im Alter von fast 90 Jahren in seinem geliebten Cannes gestorben war, beauftragten seine Freunde den Bildhauer Paul Liénard, Lord Brougham zu Ehren ein Denkmal zu schaffen. Die Bronzestatue wurde allerdings im Zweiten Weltkrieg zerstört und 1952 durch eine Reproduktion ersetzt, die in Sichtweite des Hafens und des Palais des Festivals steht. Und auf dem Cimetière du Grand Jas, wo auch Klaus Mann seine letzte Ruhestätte gefunden hat, kann man noch heute zum monumentalen Grabmal des »Erfinders« von Cannes pilgern.  

Eine der zahlreichen von Palmen umstandenen Villen an der weltberühmten Promenade (Foto: Ralf Nestmeyer)
Eine der zahlreichen von Palmen umstandenen Villen an der weltberühmten Promenade (Foto: Ralf Nestmeyer)

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