Platte Parolen und explizite Tabubrüche scheinen derzeit geeignete Mittel für Wahlerfolge in ganz Europa und für Sachbuch-Bestseller zu sein. Unsere Reisejournalistin Annette Krus-Bonazza, unlängst mit einem Preis für einen italienischen Reiseführer ausgezeichnet, hat mit der Neuauflage ihres »Wien MM-City« (4. Auflage 2011) das »Rote Wien« untersucht – und ein spannendes Museum entdeckt. Schon das Gebäude hat es in sich: Die Ausstellung befindet sich in einem monumentalen Superwohnblock, der in den 20er-Jahren erbaut wurde.
Im neuen MM-City-Guide »Wien« (4. Auflage 2011) ist nachzulesen, dass die Donaumetropole in punkto Lebensqualität vor Zürich, Genf und Vancouver rangiert. So lautete zwei Jahre in Folge das Fazit der Mercer-Studie, die 2009 und 2010 Ökonomie und Ökologie, Infrastruktur und Ausbildungsbedingungen, Sozialsysteme und Freizeitangebote von weltweit über 200 Städten ins wissenschaftliche Visier nahm. Das positive Forschungsergebnis bestätigte und beflügelte die rote Stadtregierung, sodass die SPÖ (mit unserer SPD vergleichbar) in diesem Sommer zuversichtlich in den Landtags- und Gemeinderatswahlkampf zog. Ebenso siegessicher gab sich der Spitzenkandidat der FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs), der dem amtierenden Bürgermeister Michael Häupl den »Kampf um Wien« ansagte, aus dem er am 10. Oktober 2010 mit einem erschreckend guten Wahlergebnis und stolzgeschwellter Brust hervorging.
Ein von Ausländerfeindlichkeit geprägter Wahlkampf
Heinz Christian Strache, Bruder im rechtspopulistischen Geiste des »xenophoben Hardliners« (Die Zeit) Geert Wilders und Bestsellerautors Thilo Sarrazin konnte knapp 27 Prozent der Wienerinnen und Wiener überzeugen. Ebenso wie sein niederländischer und deutscher Gesinnungsgenosse punktete er mit plumper ausländer- und islamfeindlicher Propaganda und dümmlichen Parolen à la »Sarrazin statt Muezzin« und erreichte damit wohl vornehmlich das sogenannte Prekariat.
Jedenfalls fuhr die FPÖ ausgerechnet in den traditionellen Arbeitervierteln und Hochburgen des »Roten Wien« weit über 30 Prozent ein. Die übrigen Parteien hatten entsprechende Verluste zu erleiden, und der Stimmenanteil der SPÖ sank gegenüber 2005 von 49,1 auf 44,1 Prozent. Sie büßte ihre absolute Mandatsmehrheit im Stadt- und Landtag ein und entschied sich zu einer Koalition mit den Grünen. Eine vergleichbare Situation gab es schon einmal 1996, als Straches politischer Ziehvater Jörg Haider seinen großen Wahlerfolg feierte, der damals noch mit dem Entsetzen des demokratischen Europa quittiert wurde. Haider und Strache erschütter(t)en das seit dem Untergang der Donaumonarchie nahezu unangefochten »Rote Wien«, von dessen Kinder- und Jugendtagen ein neues Museum im 19. Wiener Gemeindebezirk erzählt.
Ein Museum im Superwohnblock
Die eingedenk der nachhaltigen Wirkung des historischen »Roten Wien« (1919-1934) auf Stadt- und Menschenbild der österreichischen Kapitale eigentlich längst überfällige Dauerausstellung wurde am 30. April 2010 im Karl-Marx-Hof eröffnet. Dabei handelt es sich um einen zwischen 1926 und 1930 erbauten monumentalen Superwohnblock, der weitläufige Gartenhöfe, Ambulanzen und Apotheken, Wasch- und Badehäuser, Mütterberatungsstelle und Kindergärten, Jugendheim und Bibliothek integriert(e). Der Karl-Marx-Hof ist das Paradebeispiel für den seinerzeit europaweit bewunderten, nach 1945 fortgeführten kommunalen Wiener Wohnungsbau und der ideale Standort für die von Lilli Bauer und Werner T. Bauer von der Österreichischen Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung konzipierte Ausstellung. Deren Exponate »möblieren« und »bespielen« die beiden Etagen über dem nach wie vor kollektiv genutzten Waschsalon Nr. 2 an der Halteraugasse.
Dort, wo bis zum Einbau von privaten Bädern in die derzeit 1372 Wohnungen des Karl-Marx-Hofs Badewannen, Brausen und Wasserdepots standen, dokumentieren nun großformatige Fotos, Ton- und Filmsequenzen, Architekturmodelle und Vereinsfahnen den Wiener Alltag zur Zeit der ersten österreichischen Republik. Thematische Schwerpunkte sind die kommunale Bautätigkeit, die vorbildliche Sozial-, Kultur- und Bildungsarbeit und die Fest- und Feierkultur im »Roten Wien«, die letztlich den historischen Grundstein für die von der Mercer-Studie attestierte hohe Lebensqualität der österreichischen Hauptstadt legten.
Möge die Ausstellung über die Gründerväter und -mütter des »Roten Wien« ihre Enkel ermahnen, ihr sozialpolitisches Vermächtnis in Zukunft ernster zu nehmen und den Wohlstand sozial gerechter zu verteilen! Auf diese originär sozialdemokratische Weise könnten (muslimische) Migranten von ihrer Sündenbockfunktion und die Stadt vom politischen Einfluss der FPÖ befreit werden. Jedenfalls würde ich in der nächsten Ausgabe des City-Guides gern berichten, dass die Erfolgswelle von Strache und Konsorten in Wien wie anderswo in Europa verebbt ist …
Weiterführende Informationen:
Das Rote Wien im Waschsalon Nr. 2 des Karl-Marx-Hofs
Öffnungszeiten: Do 13-18, So 12-16 Uhr, Eintritt 3 €, erm. 1-2 €
19. Bezirk (Döbling) Halteraugasse 2, Tel. 0664/88540888
dasrotewien-waschsalon.at