Reportage

Sport und Kunst -
der französische Teil des Royatals

Ralf Nestmeyer, Autor zahlreicher Frankreichtitel, u.a. »Südfrankreich« (2. Auflage 2004) oder »Provence & Cote d'Azur« (4. Auflage 2003), hat sich diesmal einer touristisch weniger bekannten Ecke gewidmet: dem Royatal. Neben außergewöhnlichen Sportmöglichkeiten ist er einer höchst originellen Eisenbahn, 4000 Jahre alten Felszeichnungen und einer drastischen Judas-Darstellung auf die Spur gekommen.


Es sind gerade einmal zwanzig Kilometer Luftlinie, die zwischen Menton mit seinen palmengesäumten Stränden und blühenden subtropischen Gärten und dem französischen Teil des Royatals, Inbegriff des Aktivtourismus, liegen – tatsächlich trennen die beiden Regionen Welten. Während an der überfüllten Côte d’Azur die meisten Touristen träge in der Sonne liegen, lockt das Royatal mit unberührter Natur und zahlreichen Aktivitäten. Der Bogen spannt sich von Kajakfahren über Bergwandern bis zu Canyoning, einer seit ein paar Jahren hoch im Kurs stehenden Sportart.
Die korrekte deutsche Übersetzung von Canyoning müsste wohl »Schluchting« lauten, denn es handelt sich um eine Schluchterkundung, die sowohl wandernd und kletternd, als auch schwimmend und springend bewältigt werden kann. Man seilt sich zumeist in einen engen Canyon ab und folgt dann dem Lauf des Flusses. Auf dem Weg durch die steil aufragenden Felsformationen muss man sich immer wieder abseilen, stellenweise von Felsvorsprüngen in dunkle Wasserlöcher hinabspringen und gefährliche Strudelwannen überwinden.
Da die wenigsten wagemutigen Touristen die für das Canyoning notwendige Ausrüstung und das entsprechende technische Know-how mitbringen, bieten mehrere Veranstalter im Royatal organisierte Canyon-Tagestouren durch die engen Seitentäler an.

Bequemere Naturen können das gesamte Royatal von Breil-sur-Roya bis Tende mit einer höchst originellen Eisenbahn erkunden. Mit dem Bau der von Nizza über Sospel in das italienische Cuneo führenden »Tendabahn« wurde 1910 begonnen; zahllose Viadukte und Tunnels mussten hierzu errichtet werden, doch schon im Zweiten Weltkrieg wurde die Bahnlinie so stark zerstört, dass sich die Wiederaufnahme des Betriebs (1972) über Jahrzehnte hinzog.
Wer in St-Dalmas-de-Tende den Zug verlässt, wird sich über den außergewöhnlich großen Bahnhof wundern, der in dem kleinen Dorf merklich deplaziert wirkt. Die Größe erklärt sich aus der Tatsache, dass es sich um einen ehemaligen Grenzbahnhof zwischen Italien und Frankreich handelt; bis 1947 lief die Grenze zwischen Frankreich und Italien nämlich mitten durch das obere Royatal. Erst durch eine Volksabstimmung, bei der der höhere Lebensstandard die ausschlaggebende Rolle spielte, wurde Tenda zu Tende und Frankreich ein Stück größer. In den Einfärbungen des örtlichen Dialekts leben die italienischen Wurzeln jedoch bis heute fort.

Westlich des Royatals trifft man auf das größte europäische Freilichtmuseum für Frühgeschichte. Vor 4000 Jahren hat die kelto-ligurische Urbevölkerung in den Tälern rund um den als »Heiligen Berg« verehrten Mont Bégo begonnen, Zeichnungen in den Fels zu ritzen. Rund 30.000 Gravuren lassen sich in der Vallée des Merveilles (»Tal der Wunder«) und in der benachbarten Vallée Fontanalbe ausmachen.
Zwischen Oktober und Mitte Juni sind die Felszeichnungen zumeist von einer Schneeschicht bedeckt, so dass genau genommen nur die Sommermonate Juli, August und September für Exkursionen geeignet sind. Als Ausgangspunkt für eine Wanderung ins Vallée des Merveilles – mindestens ein Tag ist zu veranschlagen – eignen sich der Lac des Mèsches oder Castérino. Da die offiziellen Bergführer naturgemäß am besten über die Lage der schönsten Felszeichnungen Bescheid wissen, ist es von Vorteil, sich einer geführten Wanderung anzuschließen.
In der übrigen Jahreszeit muss man mit dem im Juni 1996 eröffneten Musée des Merveilles vorlieb nehmen. Das Museum ist die Konsequenz wiederholter Zerstörungen der frei zugänglichen Felsbilder durch Vandalen und »Sammler«. Die bedeutendsten Felszeichnungen wurden folglich abgelöst und in dem Museum ausgestellt.

Auf die kunsthistorisch bedeutsamste Sehenswürdigkeit der Region, wenn nicht sogar des gesamten Hinterlandes der Côte d’Azur, stößt man in einem kleinen, abgelegenen Tal, vier Kilometer hinter der Ortschaft La Brigue. Von außen würde wohl niemand in der schlichten einschiffigen Wallfahrtskapelle Notre-Dames-des-Fontaines einen von seinen Ausmaßen wie auch von seiner Ausdruckskraft so überaus beeindruckenden Freskenzyklus vermuten. Der Zyklus ist ein Werk des aus Piemont stammenden Künstler-Priesters Giovanni Canavesio, der im 15. Jahrhundert als Wandermaler in der Grafschaft Nizza hohes Ansehen genoss. Beeindruckend sind die realistische Illustrationen mit teilweise skurrilen Details: So hängt Judas, von einem dämonischen Affen aufgeschlitzt, mit blutigen Eingeweiden an einem Olivenbaum.

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