Reportage

Eine spartanische Sommerfrische mit Tradition.
Marseille und seine berühmten Cabanons

Ein Artikel von Ralf Nestmeyer. Der Autor der Reisehandbücher »Provence & Cote d'Azur« (5. Auflage) und »Südfrankreich« (3. Auflage) ist in seinem Bericht einem Freizeitvergnügen für alle Schichten nachgegangen. Die kleinen Häuschen am Meer, die ab dem Ende des 19. J. beliebt waren, konnten bereits einen bekannten Krimiautor begeistern, der dort sogar seinen ersten Kuss bekommen hat.


Marseille gilt gemeinhin als ausufernder Moloch, als schillernde Hafenmetropole mit all jenen Verlockungen, die eine mediterrane Großstadt auszeichnen. Doch zum Glück haben sich noch ein paar versteckte Kleinode erhalten, so beispielsweise die Cabanons, winzige Wochenendhäuser, die mindestens so typisch für Marseille sind wie die berühmte Bouillabaisse.
Entlang der Mittelmeerküste, die sich im Osten der Stadt vom Vallon des Auffes bis zu den Calanques erstreckt, standen einst mehr als tausend Cabanons, die sich in teilweise wilder Bebauung über die Hügel und rund um die felsigen Buchten zogen. Durch den Bauboom der Nachkriegsjahre hat sich Marseille weit in das Umland hineingefressen, so dass ein großer Teil der Cabanons heute verschwunden sind.
Ursprünglich war der Cabanon ein Sommerhaus, in dem sich die Marseiller an den Sonntagen und in den Ferien zusammen mit der Familie trafen, um die Natur zu genießen und sich den Tagesablauf nur vom Rhythmus der Sonne diktieren zu lassen.
Abends versammelte man sich an einer langen Tafel, um sich an einem leckeren Essen, zumeist mit frisch gefangenem Fisch, zu erfreuen. Die ersten Cabanons entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Stadt immer größer und reicher wurde. Dabei handelte es sich nicht um ein Freizeitvergnügen für Wohlhabende: Die Cabanons sind ein wichtiges Zeugnis der Freizeitkultur aller sozialen Schichten. Die Häuser waren keine komfortablen Unterkünfte, vielmehr handelte es sich um einfache Holzhütten mit einer Veranda, die weder über Strom-, noch über einen Wasseranschluss verfügten. In seiner einfachen Form ähnelt der Cabanon einem Bootsschuppen, voll mit Tischen, Stühlen, Kissen, Geschirr, Gaskochern, Matratzen, Sonnenschirmen. Mit anderen Worten: mit allem, was man benötigt, um einen Tag am Meer zu verweilen.


Der mythische erste Kuss eines Krimiautors

Für die Marseiller umgibt die Vorstellung, die warmen Sommertage in einem Cabanon zu verbringen, bis heute eine geradezu mythische Aura. Auch der berühmte, unlängst verstorbene Krimiautor Jean-Claude Izzo erinnerte sich mit Wehmut daran, wo und wie er im Alter von fünfzehn Jahren das erste Mal ein Mädchen geküsst hatte: »Das war in einer kleinen Hütte in Les Goudes, zu der Zeit im Sommer, zu der die Erwachsenen Siesta machen.«
Selbst in bürgerlichen Kreisen ist man bis heute Stolz darauf, ein Cabanon zu besitzen oder, wenn es nicht anders geht, am Wochenende zum Cabanon eines Freundes zu fahren. In der Regel sind diese nur gemietet, aber dieses Mietrecht wird zumeist weitervererbt, denn aus den spartanischen Unterkünften sind durch An- und Umbauten inzwischen häufig komfortable Wohnungen mit Bad und Küche geworden. Nicht wenige Menschen leben sogar das ganze Jahr über in ihrem Cabanon. Auch Jean-Claude Izzos lässt in seinem Kriminalroman »Chourmo« seinen Kommissar Fabio Montale in einem von den Eltern geerbten Cabanon in Les Goudes wohnen: »Während meiner müßigen Stunden hatte ich sie mehr schlecht als recht wieder instand gesetzt. Es war alles andere als luxuriös, aber acht Stufen unter meiner Terrasse lagen das Meer und mein Boot. Und das war bestimmt besser als jede Hoffnung auf das Paradies im Jenseits.«


Die Kultur der Cabanos am berühmten Fernwanderweg GR 98

Wer sich ein Bild von der Kultur der Cabanons machen will, nimmt in Marseille am besten den Bus Nr. 20, der in Les Goudes hält und dann weiter bis zum Hafen von Callelongue fährt. In dem beschaulichen Fischerdorf wurden die ersten Cabanons 1911 von einem Fabrikbesitzer errichtet und vermietet. An dem kleinen Hafenbecken kann man in Ruhe die Beine ausstrecken und beobachten, wie die Boote langsam tuckernd aufs Meer steuern.
Ein Teil der ehemaligen Bleigießerei beherbergt heute ein wunderschönes Ausflugslokal mit dem Namen »De la Grotte« (Tel. 0491731779), dessen barock anmutender Speisesaal begeistert. Neben Fischgerichten werden auch sehr leckere Pizzen zu moderaten Preisen serviert. Das Restaurant ist sicherlich kein Touristennepp: Der Bürgermeister von Marseille hat hier schon Jacques Chirac bewirten lassen.
Von Callelongue aus kann man über den berühmten Fernwanderweg GR 98 entlang der Calanques bis nach Cassis wandern. In den naturgeschützten Buchten wie beispielsweise Sormiou oder Morgiou findet man ebenfalls zahlreiche Cabanons, deren Bewohner allerdings noch immer ohne fließendes Wasser und Strom auskommen müssen. Eine spartanische Sommerfrische mit Tradition, die selbst ein ehemaliger Minister zu schätzen weiß.
Noch ein Hinweis: Wer wandert, sollte beachten, dass zwischen Juli und Mitte September aus Sicherheitsgründen nur die Küstenpfade der Calanques zugänglich sind (Brandgefahr!). Über die genauen Zeiten informiert das Office de Tourisme. Das Rauchen ist das ganze Jahr über strengstens verboten!


Informative Internetadressen:

Passend dazu